Am 10. September 2019 fand der Berufungsprozess gegen die ehemalige Kantonsrätin Lisa Bosia Mirra in Locarno statt. Im Jahr 2017 war sie mit einer Geldstrafe von 8‘800 Franken belegt worden, weil sie insgesamt 24 Migrant·inn·en dabei geholfen hatte, von Italien in die Schweiz zu gelangen. Zur Erinnerung: Im Juli und August 2016 campierten Hunderte von Menschen aus Eritrea, Äthiopien und anderen afrikanischen Ländern im Park unterhalb des Bahnhofs von Como. Die Allermeisten von ihnen, oft unbegleitete Minderjährige, wollten nach Deutschland oder zum kleineren Teil in die Schweiz weiterreisen, wo sie bereits Verwandte hatten. Doch sie wurden systematisch – ohne angehört zu werden – an der Schweizer Grenze in Chiasso zurückgewiesen. Es handelt sich dabei um eine illegale Praxis der Grenzbeamten, die von oben gedeckt wird.
Hilfe für die Verletzlichsten
Lisa Bosia brachte mit den Freiwilligen ihrer ‘Associazione Firdaus’ regelmässig Mittagessen für die Flüchtlinge in den Park von Como, dokumentierte die skandalösen Rückweisungen und begleitete Geflüchtete an die Grenze von Chiasso, um deren legale Einreise in die Schweiz zu erwirken – in den meisten Fällen war dies jedoch aussichtslos. Die einzige Möglichkeit für die Geflüchteten, um weiter zu kommen, war es deshalb, die Grenze «illegal» zu überschreiten. Italienische und schweizerische Bürger·innen, die über die Zustände empört waren, halfen ihnen dabei; so auch Lisa Bosia. Für ihr Engagement im Park von Como und an der Grenze erhielt sie im Jahr 2017 den «Schweizer Menschenrechtspreis Offene Alpen». Am 10. September vor dem Berufungsgericht in Locarno kehrt Lisa Bosia nach Como im Sommer 2016 zurück und erzählt sehr emotional, unter welchen elenden Bedingungen die Geflüchteten im Park unter dem Bahnhof ausharren mussten. Sie nennt einige konkrete Fälle von Migrant·inn·en, welche die Sahara zu Fuss durchquert hatten, in Libyen inhaftiert und gefoltert wurden und denen sie die Zusammenführung mit Verwandten in Deutschland ermöglicht hat. Lisa Bosia versichert: «Ich habe denjenigen geholfen, die ich für die Verletzlichsten hielt, um sie aus der extrem prekären Lage in Como zu befreien und sie mit ihren Familienangehörigen zusammen zu bringen.»
Gesetz ist Gesetz!
Die Staatsanwältin hält dagegen fest, dass dies nicht der richtige Weg sei, um Migrant·inn·en zu helfen, und dass die erstinstanzliche Verurteilung gerechtfertigt sei. Solidarität dürfe nicht den Vorrang vor dem Gesetz haben. Die Angeklagte habe wissentlich illegale Handlungen begangen, welche die Migrant·inn·en selbst in Gefahr gebracht hätten: «Die Angeklagte hatte keine Gewissheit über das Schicksal der Migranten, einmal in Deutschland, in einem unbekannten Land, ohne Geld, ohne die Sprache zu kennen. Sie wusste nicht, ob deren sogenannte Eltern nicht Menschen wären, die sie ausbeuten würden. So hilft man den Migranten nicht, sie hätte ihnen auf legale Weise ihre Solidarität zeigen können.» Daraufhin argumentiert der Anwalt, dass die Legitimität des Ausländergesetzes nicht in Frage gestellt sei, aber dass die Maximen des Völkerrechts Vorrang hätten. Gemäss des Schengener Abkommens handelt es sich um die Grenzen, die den Schengener Raum einschliessen. Innerhalb dieses Raums stelle das Überschreiten der Binnengrenzen sowie derjenigen zwischen der Schweiz und Italien oder Deutschland – auch ohne Papiere – keine Straftat dar. Das sei die Ansicht mehrerer renommierter Anwältinnen und Anwälte. Diese Aussage ist ein interessanter Ansatz, um die gewohnte Heiligsprechung der nationalen Grenzen einmal mehr zu hinterfragen. Das Urteil des Berufungsgerichts in Locarno wird in Kürze bekannt gegeben.