«Gewalt gegen Frauen kommt in allen Ländern vor. Die Fakten sind schockierend – jede dritte Frau in der EU sowie weltweit hat schon einmal körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. Jedes fünfte Mädchen ist heutzutage Opfer von sexuellem Missbrauch. Auch die Gewalt im Internet nimmt zu: Jede zweite junge Frau hat bereits geschlechtsspezifische Cybergewalt erlebt.»
Das sind die Worte von Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission, kurz vor dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November 2022. Und weiter: «Die EU verurteilt jede Form von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Es ist inakzeptabel, dass Frauen und Mädchen im 21. Jahrhundert immer noch misshandelt, belästigt, vergewaltigt, verstümmelt oder zwangsverheiratet werden.» Ja, das stimmt alles, doch ob wirklich effizient dagegen vorgegangen wird, insbesondere bei der Ursachenbekämpfung, ist fraglich. Eine der Früchte der MeToo-Bewegung ist jedoch sicherlich, dass in Europa auf juristischer Ebene Verbesserungen stattgefunden haben. Spaniens neues Sexualstrafrecht z.B. hat im Oktober 2022 das sogenannte «Nur Ja heisst Ja»-Gesetz verabschiedet. Die linke Ministerin für Gleichstellung, Irene Montero, ging davon aus, dass dieses neue Gesetz das Ende der Vergewaltigungskultur in Spanien sein würde. Doch – obwohl sie in einigen Punkten restriktiver als die Vorherige ist – führte die neue Gesetzeslage dazu, dass Anfang dieses Jahres ein 39-jähriger Sexualverbrecher, der 17 Frauen vergewaltigt hatte, vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Seine Strafe wurde von 15 auf 9 Jahre gesenkt. In den Medien und auf der Strasse wurde heftig gegen dieses mildernde Urteil protestiert; Montero gab den «Macho-Richtern» die Schuld. Auch in der Schweiz gab es heftige Debatten um die neue Sexualstrafrechtsreform, das nach 30 (!) Jahren reformiert wird und noch auf die Zustimmung des Nationalrates im Juni wartet. Die aktuelle Version der Reform ist sicherlich ein Sieg der Menschen, die sich unermüdlich für die Rechte der Frauen einsetzen. So hat auch der wiederaufgenommene Frauenstreik1 zu dieser Reformierung beigetragen. Ein wesentlicher Streitpunkt bei der Ausarbeitung des neuen Sexualstrafrechts war – auch hier – die entscheidende Frage: Geht es um «Nein heisst Nein», oder, – und da liegt ein wesentlicher Unterschied – um «Nur Ja heisst Ja». Denn, wie wir inzwischen wissen, kann ein klares «Nein» in vielen Fällen nicht ausgesprochen werden. Denken wir nur an Vergewaltigungen innerhalb der Familie und dem engen Freundeskreis. Oder bei Erstarrung, dem sogenannten «Freezing» des Opfers.
Im März 2022 hat die Europäische Kommission neue EU-Vorschriften zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen – auch im Internet – vorgeschlagen. Ausserdem gab sie den Weg frei für die gemeinsame EU-Notrufnummer (116 016) für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Sie sollen ab April 2023 diese Nummer überall in der EU anrufen können, um Rat und Unterstützung zu erhalten. 15 Mitgliedstaaten haben bereits erklärt, ihre Hotlines für Opfer von Gewalt gegen Frauen an die Nummer zu koppeln. Bis Ende April 2023 haben die Mitgliedstaaten Zeit, die gemeinsame EU-Nummer zu reservieren, um ihre nationalen Hotlines auf sie umzustellen. Doch, was heisst es eigentlich «ihre nationalen Hotlines auf die europäische umzustellen»? In vielen europäischen Ländern funktionieren bereits solche «nationalen» Notrufnummern, sind aber zumeist völlig überlastet. Es müssten viel mehr dafür ausgebildete Menschen die Anrufe entgegennehmen und der Situation entsprechend reagieren können. Eine Europäische Hotline wäre demnach, meiner Ansicht nach, nur als zusätzliche Möglichkeit sinnvoll. Hier stellt sich jedoch die Frage, wie Druck aufgebaut werden kann, um das zu erreichen. Und wie können wir den von sexueller Gewalt Betroffenen in Nicht-EU-Ländern helfen, wo können sie Schutz anfordern? Denken wir an die Frauen in Afghanistan, im Iran, Irak, in Saudiarabien, der Türkei?
Frauen in und aus Konfliktgebieten
Unzählige Frauen (aber auch junge Männer und Kinder) werden auf der Flucht vergewaltigt. Oft werden ihre Körper als Zahlungsmittel gehandelt. Im Krieg wird, wie wir wissen, Vergewaltigung als Waffe eingesetzt – gegen Frauen, Kinder und auch Männer. Am Beispiel des Ukrainekrieges wird dies, wieder einmal, sehr deutlich. Hier haben sich im Land selber seit Beginn des Krieges bereits 156 Opfer von sexuellen Gewalttaten auf ein Strafverfahren eingelassen. Die Dunkelziffer der Opfer ist aber wesentlich höher, da nur ein geringer Teil der Betroffenen den Mut hat, sich zu outen, denn zumeist überwiegt die Scham. Und diese Scham und der posttraumatische Stress ist kaum allein zu bewältigen und kann ein Leben lang schlimme Folgen haben. Frauen, die vor dem russischen Angriff geflohen sind, werden aber auch in unseren friedlichen Ländern Opfer sexueller Misshandlung. Seit dem Angriff Russlands sind hunderttausende Ukrainerinnen Opfer von Menschenhändler·inne·n geworden. Nach Angabe der Flüchtlingsbehörde der Vereinten Nationen UNHCR waren im letzten Jahr etwa 18 Millionen Ukrainer·innen auf der Flucht im Ausland. Die meisten von ihnen Frauen und Kinder, da Männer im wehrfähigen Alter nicht ausreisen dürfen. Ab Beginn des Krieges nahm in den Empfangsländern die Nachfrage nach Pornografie und sexuellen Dienstleistungen mit Ukrainerinnen rasant zu. Onlinesuchen nach Sex und Missbrauchsdarstellungen mit Ukrainerinnen stiegen laut OSZE um bis zu 600 Prozent an!
Schweden, das darüber Daten erhob, fand, dass in den ersten Kriegsmonaten 30 von 38 Männern online speziell nach ukrainischen Frauen suchten. Frauen werden im Netz geködert, in privaten Unterkünften missbraucht oder an der Grenze von Menschenhändler·inne·n abgefangen. Sie werden Opfer von sexueller Ausbeutung und Arbeitsausbeutung. Am meisten betroffen sind die Schwächsten und Bedürftigsten, z.B. schwangere Frauen. Oft ist die organisierte Kriminalität im Spiel. Menschenhandel, Frauenhandel – ein lukratives Geschäft, das weitgehend straffrei bleibt. Geflüchtete Frauen und Kinder haben kaum soziale Kontakte im Zielland und meist wenig Geld. Dazu sprechen sie die Sprache nicht und sind oft traumatisiert – eine toxische Ausgangslage. Ausserdem erleichtert die Technologie den Menschenhändler·inne·n das Geschäft. Viele Opfer werden im Netz geködert. In Facebook-Gruppen und Telegram-Chats, in denen sich Menschen auf der Flucht austauschen, finden sie dubiose Jobangebote. Generell würden besonders Frauen von Menschenhändlern geködert, sagen UN und OSZE. Auch wenn von der OSZE, von der Europäischen Kommission und anderen grossen europäischen Institutionen in den letzten Jahren verschiedene Massnahmen ergriffen und Verordnungen erlassen wurden, werden nach wie vor weniger als ein Prozent der Opfer von Menschenhandel überhaupt identifiziert! Die Täter werden selten verfolgt.
Patriarchale Strukturen
In Deutschland, Italien und Frankreich wird ungefähr jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder oder Sohn getötet; in der Schweiz und in Österreich ca. alle zwei Wochen. In der Türkei sind es 9 Frauen pro Woche! Insgesamt sind es in ganz Europa in den letzten Jahren um die 3000 Frauen, die jährlich aufgrund ihres Geschlechts umgebracht werden. Weltweit werden, laut Schätzungen der Vereinten Nationen, täglich 137 Feminizide verübt. Ein sehr häufiger Grund für Mord an Frauen ist der Besitzanspruch eines Mannes auf eine Frau und der mit einer Trennung einhergehende Kontrollverlust. Gewalt beginnt nicht erst mit Schlägen. Auch Bedrohungen, Beschimpfungen, Belästigungen und Kontrolle durch den Partner oder die Partnerin sind Formen von Gewalt. Sie kann Menschen aller sozialen Schichten und jeden Alters treffen: zu Hause, in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz oder online.
In Deutschland z.B. wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt, meistens durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner. Mädchen und Frauen mit Behinderung erleben zwei bis dreimal häufiger Gewalt als der Bevölkerungsdurchschnitt. Diese Statistiken sind erschreckend und revoltierend. In allen Ländern gehen die Frauen, und nicht nur sie, auf die Strasse, um gegen diese himmelschreiende Brutalität zu protestieren, um für ihre Würde und Freiheit zu kämpfen. In vielen Ländern wurden in den letzten Jahren Initiativen zu einer annähernden Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ergriffen. Dennoch sind hierarchische Strukturen weiterhin tief in unserer Gesellschaft verankert. Häusliche Gewalt gegen Frauen, sexistische Unterdrückung am Arbeitsplatz, psychische und physische sexualisierte Gewalt, Feminizide – all das kann nur effizient bekämpft werden, wenn wir die patriarchalischen Strukturen in uns und um uns abbauen und auflösen. Seien wir mutig, so wie tausende Frauen, die in Istanbul – trotz Verbot – am 8. März, dem Weltfrauentag, für ihre Rechte und gegen Gewalt demonstriert haben: «Wir schweigen nicht, wir fürchten uns nicht, wir gehorchen nicht!»
Constanze Warta
- Seit 2019 finden in der ganzen Schweiz jeweils am 14. Juni, in Anlehnung an den Frauenstreik im Jahr 1991, Protest- und Streikaktionen für die Rechte der Frauen statt, an denen sich Hunderttausende Frauen beteiligen. Die Frauenstreiks machen auf systemische und strukturelle Probleme aufmerksam und fordern die Beseitigung von Defiziten in der Gleichstellung ein.