Die Sonderausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur», die noch bis zum 10. April 2022 im Naturhistorischen Museum Bern besucht werden kann, gibt Einblick in die Vielfalt der Geschlechter und sexuellen Ausrichtungen bei Tieren und Menschen. Sie spannt den Bogen zwischen Natur und Kultur, zwischen biologischen Erkenntnissen und aktuellen gesellschaftlichen Debatten.
Auch wenn wir die Bezeichnung «queer» für Menschen nutzen, ist in der Tierwelt ausserordentlich viel Queerness zu finden. Und auch das Geschlecht des Menschen ist nicht so eindeutig, wie wir oft vermuten: Weiblich und männlich sind keine festen Kategorien, sondern eher zwei Pole, zwischen denen ein Spektrum besteht. Mit dem wachsenden Bewusstsein für die Vielfalt in der Natur gewinnt auch die gesellschaftliche Vielfalt an Aufmerksamkeit. Wir befinden uns mitten in einem gesellschaftlichen Wandel, dieser aktiviert gleichzeitig kreative Kräfte und Widerstände.
Die Ausstellung schickt die Besuchenden auf eine Entdeckungsreise ins «Queerreich», eine Welt, welche die bunte Fülle in Natur und Gesellschaft aufzeigt, die beim Thema Geschlecht und Sexualität zu finden ist. Eine Expedition, bei der die Besuchenden auch ihre eigene Identität erforschen können.
Im Tierreich gibt es fast nichts, was es nicht gibt
Queer ist eine menschliche Kategorie – solche auf Tiere anzuwenden ist heikel. Aber wenn der Begriff für Geschlechtervielfalt stehen soll, dann darf die Natur mit Fug und Recht als queer bezeichnet werden. In der Tierwelt ist Geschlecht eine relative Angelegenheit. Da gibt es Tiere, die im Laufe ihres Lebens ihr Geschlecht wechseln oder gleichzeitig mehrere Geschlechter in sich tragen. Da gibt es Weibchen, die sich ohne Männchen fortpflanzen. Oder Lebewesen mit nur einem, andere mit tausend Geschlechtern. Und auch die Verhaltensweisen ähneln dem, was wir als queer bezeichnen.
Von 1500 Tierarten – und es werden immer mehr – kennt man homosexuelles Verhalten, wie z.B. bei den Pinguinen, Giraffen, Bonobos-Affen oder auch Löwen. Das aktuellste Beispiel findet sich im Artis-Zoo in Amsterdam: Zwei männliche Gänsegeier haben vor kurzem ein Ei zusammen ausgebrütet und ziehen jetzt das Küken auf. Das niederländische Duo ist kein Einzelfall. Im New Yorker Central-Park-Zoo adoptierten zwei männliche Zügelpinguine, die seit sechs Jahren ein Paar waren, ein befruchtetes Ei und zogen das Küken daraus auf.
Als queeres Beispiel werden auch die zweigeschlechtlichen Tantra-Würmer (Tauwurm oder gemeiner Regenwurm) angeführt, die sich für ihre Fortpflanzung nebeneinanderlegen und während Stunden ihr Sperma austauschen. Bei uns Menschen ist übrigens ungefähr jede_r Zehntausendste ein Zwitter, also mit weiblichen und männlichen Geschlechtsorganen ausgestattet. Der Clownfisch, weltbekannt aus dem Film „Nemo“, ist seinerseits trans. Er lebt in Symbiose mit Seeanemonen – als Paar oder in einer Gruppe. In der Gruppe schart das Weibchen einen Männerharem um sich. Stirbt es, verwandelt sich das grösste Männchen in ein Weibchen. Überhaupt gibt es einige Tiere, die im Laufe ihres Lebens das Geschlecht wechseln
Willkommen bei den Menschen
Nach dem queeren Tierreich kommen wir in das der Menschen. Hier werden uns verschiedenste Möglichkeiten angeboten, uns mit Queersein auseinander zu setzen und zu erfahren, warum queere Menschen queer sind, was sie fühlen, denken, erleben und – leider immer noch oft – durchmachen müssen. Denn Andersartigkeit erzeugt in einer Gesellschaft immer auch Abwertung, Diffamierung, Hass und Gewalt. Die Stonewall-Unruhen 1969 in New York waren diesbezüglich eine historische Zäsur. Erstmals kämpften queere Aktivist⸱inn⸱en offen um Anerkennung und Gleichberechtigung.
Seither ist viel passiert. In etlichen westeuropäischen Ländern haben queere Menschen an Rechten und Akzeptanz gewonnen. Dennoch haben sie weiterhin mit gesellschaftlichen und politischen Widerständen zu kämpfen. Nach wie vor erleben sie körperliche Gewalt aufgrund ihres „Andersseins“. Eigentlich wäre(n) die sexuelle Orientierung(-en) jedes Menschen ja ausschliesslich seine Privatangelegenheit, solange niemand dabei zu Schaden kommt. Doch nachdem unsere Gesellschaft auf konservativen Werten aufgebaut ist, muss diese Selbstverständlichkeit erst langwierig erkämpft werden. International gesehen ist die Lage erschreckend: In 70 Ländern weltweit ist Homosexualität unter Strafe gestellt. Wobei hier auch angemerkt werden muss, dass in der Schweiz Homosexualität bis 1990 als Geisteskrankheit eingestuft wurde!
Die Tatsache, dass auch ein Mensch mehrere Geschlechter haben kann, dass nicht jede Person in das Geschlecht passt, das ihr bei der Geburt zugeteilt wird und insbesondere dass es für queere Menschen gut möglich ist, vollkommen integriert und glücklich zu leben, sofern das Umfeld sie „normal“ findet, wird in der Queer-Ausstellung durch Porträts, Interviews, Filmausschnitte, Spiele und Vieles mehr wunderbar dargestellt. Es kommt eben vor allem auf die Offenheit und Akzeptanz von Allen an, ob Menschen, die den vorgegebenen Normen nicht entsprechen, in unserer Gesellschaft ihren Platz haben können – so wie die reizenden Seepferdchen in der Welt der Tiere. Daher empfehle ich Ihnen herzlichst diese Ausstellung und hoffe, dass sie auch in andere Städte und Länder reisen wird.
Constanze Warta