«Wir haben nicht mehr viel Zeit», sagte Rudi Dutschke 1968 beim Vietnam-Kongress in Berlin. Aus seiner Sicht gab es damals eine unmittelbare revolutionäre Dringlichkeit, auf die reagiert werden müsse. Heute, so scheint es, hat sich die Dringlichkeit, die Gesellschaft zu verändern, potenziert und ein völlig neues Niveau erreicht. Davon handelt das hier vorgestellte Buch.*
Denn es bleibt nicht viel Zeit, um die irreversiblen Schäden einzudämmen, die der global entfesselte Kapitalismus verursacht und die bei einem weiteren «business as usual» zu dramatischen sozial-ökologischen Verwerfungen führen können. Viele Aktivist·inn·en und Wissenschaftler·innen sprechen deshalb von einer «Vielfachkrise» des Planeten. Die Klimakatastrophe wirkt heute als Brandbeschleuniger für alle anderen Krisen – seien es soziale, ökonomische und ökologische Krisen oder kriegerische Auseinandersetzungen. Ernüchtert müssen wir feststellen, dass die Regierungen kaum gegensteuern, um die Erderhitzung aufzuhalten. Vielmehr sehen wir, dass sie den notwendigen, tiefgreifenden Wandel, den wir sofort brauchen, verhindern oder in die ferne Zukunft verschieben. Ob im Hinblick auf demokratiepolitische Fragen, Umwelt- und Klimaschutz, Krieg und Frieden, Verteilungsfragen, Geschlechterverhältnisse oder Rassismus: Die Welt ist in einem besorgniserregenden Zustand.
Vielfachkrise
Der Begriff der Vielfachkrise tauchte zum ersten Mal im Jahr 2008 auf, als die globale Finanzkrise eine ganze Reihe von weiteren Krisen befeuerte: In den USA verloren hunderttausende Menschen ihr Obdach, in vielen Ländern des globalen Südens brachen Hungerrevolten aus, rund um den Globus verschärften sich Kriege und Konflikte um wichtige Ressourcen wie Wasser, Agrarland oder seltene Erden. Zugleich erleben wir heute eine tiefe Krise der repräsentativen Demokratie: In mächtigen Volkswirtschaften sind autokratische Regime an der Macht, die demokratische Grundrechte missachten und Menschenrechte verletzen: Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA 2016 war eine Art demokratiepolitischer Super-GAU und hat tiefe Spaltungen in der US-amerikanischen Gesellschaft hinterlassen. Auch in Europa sind seither höchst beunruhigende Tendenzen der Entdemokratisierung zu beobachten: Extrem Rechte und Rechtspopulist·inn·en gewannen in Ungarn und Polen, in Österreich, Italien und Grossbritannien an Aufwind. Teilweise scheiterten ihre Regierungsprojekte, gebannt ist die Gefahr eines erstarkenden Nationalismus deshalb aber noch lange nicht. Der progressive Aufbruch in Lateinamerika, der die Nullerjahre massgeblich prägte, endete mit der tiefen Krise des venezolanischen Experiments. Der Wahlsieg des extrem rechten Jair Bolsonaro in Brasilien im Jahr 2018 glich einem Worst-Case-Szenario: Die eklatante Missachtung von Menschenrechten sowie eine rapide voranschreitende Klima- und Umweltzerstörung waren die zum Teil irreversiblen Folgen. Ob sich das Blatt in Lateinamerika mit dem erfreulichen politischen Umschwung in Chile, Peru und Kolumbien und mit den Wahlen in Brasilien wendet, ist indes noch offen.
In Indien ist eine aggressive hindunationalistische Elite an der Macht, die eng mit den Interessen des fossilen Kapitals verwoben ist, Chinas Präsident Xi Jinping liess sich im Frühjahr 2018 durch eine Verfassungsänderung an der Macht verewigen. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 legte den Umstand offen, dass zwanzig Jahre Militärpräsenz der NATO letztlich umsonst gewesen sind, sodass diese Art des westlichen Interventionismus nun vollständig desavouiert ist. In Russland hält Präsident Putin das Land fest im Griff und grenzt sich durch aggressive illiberale Politik vom Westen ab. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 markiert eine Zäsur in der europäischen Geschichte. Im schlimmsten Fall weitet sich der Krieg aus – bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. In jedem Fall aber findet in Ost und West eine neue Phase der Aufrüstung statt – die dringend notwendigen Mittel zur Bekämpfung der Klimakrise fliessen in unfassbar hohe Rüstungs- und Militärausgaben.
Nachdem der sogenannte Arabische Frühling bis auf wenige Ausnahmen scheiterte, scheinen sich viele Despoten weiterhin an der Macht halten zu können, oder aber es bildeten sich neue autoritäre Strukturen – nicht nur in den arabischen Ländern, sondern auch in Ländern des subsaharischen Afrika. Die Dauerkrise in der an Rohstoffen extrem reichen Demokratischen Republik Kongo, die auch nach dem Machtwechsel im Zuge der Wahlen vom Dezember 2018 anhält, steht exemplarisch für viele Länder des Kontinents. Dennoch gehen die Revolten weiter: Erwähnt seien die Proteste der demokratischen (Jugend-)Bewegung «Y’en a marre» im Senegal 2012, der Umsturz in Burkina Faso 2014, die demokratischen Aufbrüche in Mali und Guinea und die Revolution im Sudan 2018 und 2019.
Im Nahen Osten kommen Konfliktdynamiken nicht zur Ruhe, die oftmals von regionalen Hegemonialbestrebungen geprägt sind und hinter denen sich wiederum globale Hegemoniekämpfe verbergen. Am auffälligsten sind die Stellvertreterkriege, die auf die Kämpfe um Vorherrschaft zwischen Saudi-Arabien und dem Iran verweisen. Was die Türkei betrifft, so sehen wir eine massive Verfolgung und Repression gegen Journalist·inn·en, Intellektuelle und Oppositionelle, während das Land nach aussen hin einen aggressiven Krieg betreibt und gezielt die Zonen der kurdischen Selbstverwaltung im Osten und Süden des Landes sowie in Nordsyrien zerstört.
Ungleichverteilung und Klimakrise
Viele Entwicklungen der Vielfachkrise haben damit zu tun, dass das ökonomische Ungleichgewicht rund um den Globus in atemberaubendem Masse zugenommen hat. Die Zahlen von Oxfam, die Jahr für Jahr die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums wiedergeben, sprechen eine klare Sprache. Denn weder die grossen Datenlecks rund um LuxLeaks noch die sogenannten Paradise Papers oder Pandora Papers haben grundlegend etwas gegen die Steuervermeidungsstrategien von Konzernen und Oligarch·inn·en sowie deren staatliche Absicherung ausrichten können. Wir stehen vor der absurden Situation, dass wenige Dutzend Personen rund die Hälfte der weltweiten privaten Vermögen kontrollieren. Die Welt ist heute über globale Liefer- und Produktionsketten verbunden, doch die Aktivitäten der transnationalen Konzerne verletzen permanent die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Und während der Corona-Pandemie hat sich die Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Reichtums weiter zugespitzt.
Es gibt allerdings eine bestimmte Dimension dieser gesellschaftlichen Krisen, mit der vorangegangene Generationen bei Weitem nicht in dem Masse konfrontiert waren, wie wir es heute sind: die Klimakrise. Wenn es in absehbarer Zeit nicht gelingt, die Erhitzung unseres Planeten aufzuhalten, drohen verschärfte Krisendynamiken – ganze Weltregionen, die heute dicht besiedelt sind, könnten mehr oder weniger unbewohnbar werden. Eine unfassbare Vorstellung, der die herrschende Politik mit einer ungeheuren Verdrängungsleistung begegnet. Aufgrund ihres irreversiblen Charakters lässt sich die Klimakrise mit keiner der oben genannten gesellschaftlichen Krisen vergleichen. Deswegen müssen wir unter allen Umständen hier und jetzt dagegen aktiv werden. Dass es dafür Zeichen der Hoffnung gibt, ist nicht aus der Luft gegriffen: Rund um den Globus sind Millionen Menschen aktiv, um die sozial-ökologische Krise zu überwinden und die dringend notwendige Transformation zu gestalten.
Ich habe mein Buch zu einem Grossteil in Wiener und Berliner Bibliotheken verfasst sowie auf Kollektiv-Bauernhöfen in Österreich, der Schweiz und Frankreich. An diesen Orten ist man fern der entsetzlichen Auswirkungen von Krieg, Repression und Umweltzerstörung. Dort gelingt es den jeweiligen Regierungen bisweilen noch, die gesellschaftliche Hegemonie stabil zu halten – manchmal sogar unter mehr oder weniger bürgerlich-liberalen Vorzeichen. Wer das Privileg hat, im Besitz der «richtigen» Papiere zu sein, muss in der Regel nicht befürchten, Hunger zu leiden oder kriegerische Auseinandersetzungen zu erleben. Ein Grossteil der Menschen in Westeuropa hat sogar das Privileg, in Wohlstand zu leben. Verglichen mit den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine oder den apokalyptischen Lebensbedingungen, denen die Mehrheit der Menschen seit vielen Jahrzehnten in der Demokratischen Republik Kongo, in Bangladesch oder in Kolumbien ausgesetzt ist, hat man bisweilen den Eindruck, in einer Art V.I.P.-Zone der Welt zu leben.
Unmut macht sich breit
Die imperiale Lebensweise und die damit verbundene globale Apartheid, zwei Begriffe, die für das Buch massgeblich sind, schaffen die strukturellen Rahmenbedingungen, damit Elend und Umweltzerstörung im globalen Norden weitgehend unsichtbar bleiben. Und dennoch: Die verbliebenen Wohlstandsinseln schrumpfen: Es finden massive Angriffe auf soziale Sicherungssysteme statt, von der öffentlichen Gesundheitsversorgung über das Bildungssystem bis hin zur Garantie der Pensionszahlungen – das führt dazu, dass sich in den Bevölkerungen Unmut breitmacht und es zuweilen auch zu brodeln beginnt. Die ökonomischen Krisen, die der neoliberale Kapitalismus erzeugt, spülen in weiterer Folge rechte und extrem rechte Parteien und Bewegungen an die Oberfläche, welche die Gesellschaften spalten und Sündenböcke für die Krise suchen. Mit Entsetzen sehen wir, dass diejenigen Politiker·innen, die Grundrechte einschränken, Migrant·inn·en und Geflüchtete an den Rand der Gesellschaft drängen und den globalen Norden gegenüber dem globalen Süden abschotten, dieselben Politiker·innen sind, die beharrlich die menschengemachte Erderhitzung leugnen oder relativieren. Doch dem Pessimismus des Verstandes sollte, um mit Antonio Gramsci zu sprechen, immer der Optimismus unseres Willens gegenüberstehen: der Optimismus, eine gerechte und für zukünftige Generationen lebenswerte Welt zu schaffen. Optimismus, genauso wie Hoffnung, ist dabei nicht die Überzeugung, dass etwas unter allen Umständen gut ausgeht. Es bedeutet vielmehr, sich die Haltung und letztlich die Gewissheit zu eigen zu machen, dass solidarisches Handeln Sinn macht, egal wie die Dinge am Ende ausgehen. Das Buch bezieht sich wesentlich auf den Begriff der Solidarität – gleichsam als Gegenstück zur imperialen Lebensweise und globalen Apartheid. Solidarität ist unabkömmlich, wollen wir die Vielfachkrise unseres Planeten überwinden, denn sie bestimmt die Art und Weise, wie wir uns als handelnde Subjekte aufeinander beziehen, und schafft damit erst das kollektive Subjekt, das Veränderungen bewirken kann. Solidarität findet im Grossen wie im Kleinen statt, sie verbindet die lokale mit der globalen Ebene und sie unterscheidet sich fundamental von der herablassenden Geste des Karitativen.
Die Zukunft ist offen, und zwar in alle Richtungen. Gemeinsam müssen wir globale Gerechtigkeit durchsetzen und für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen kämpfen. Wenn dieses Buch dazu einen Beitrag leisten kann, hat es seinen Zweck erfüllt. Es soll Handwerkszeug, Diskussionsgrundlage, Strategiepapier und Reflexionsinstrument sein. Es richtet sich an Aktive mit langjähriger Erfahrung ebenso wie an Neueinsteiger·innen, denen der Zustand der Welt keine Ruhe lässt. Inhaltlich habe ich auf zahlreiche Forschungen sowie Manuskripte für Reportagen, Zeitungsartikel und Vorträge zurückgegriffen, die im Laufe der Jahre entstanden sind. Verschiedene Delegationsreisen und Solidaritätsprojekte, an denen ich mitgearbeitet habe und noch immer mitarbeite, oft im Rahmen des Europäischen BürgerInnen Forums, liefern Grundlagen. Unzählige Debatten bei akademischen Konferenzen und in Redaktionsräumen, bei NoBorder- und Klimacamps, bei Treffen auf Landkooperativen der Bewegung Longo maï oder in Hausprojekten sind eingeflossen. Alle empirischen Grundlagen, die ich nenne, sind wissenschaftlich belegbar, doch handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern um einen Essay, ein Debattenbuch und eine Streitschrift für globale Solidarität, die den Anspruch hat, nah an der Praxis der Bewegungen zu bleiben. Denn um die sozial-ökologische Transformation umzusetzen, sind unsere kollektive Intelligenz und Handlungsfähigkeit gefordert. Sie können das eben erschienene Buch gerne anhand der Bestellkarte, die diesem Archipel beigelegt ist, bestellen.
Alexander Behr
*Alexander Behr: «Globale Solidarität – Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen», Verlag oekom, München, Oktober 2022
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