Hier veröffentlichen wir Auszüge aus der Rede des Bergführers Benoit Ducos, die er im Namen der «7 von Briançon» anlässlich der Verleihung des Schweizer Menschenrechtspreises «Offene Alpen» Auge in Auge mit den zahlreich aufgebotenen Grenzpolizisten und Gendarmen an der französisch-italienischen Grenze hielt.
Ein Preis für 7 Personen, die in Frankreich verurteilt wurden, als Anerkennung für deren mutiges Engagement bei der Rettung von Flüchtlingen und der Anprangerung rassistischer und fremdenfeindlicher Übergriffe, verliehen von einer Schweizer Organisation auf französischem Staatsgebiet; du denkst, du träumst! In diesem Land, in dieser französischen Republik, die stolz die Worte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat, belohnen die Behörden diese Art von Engagement nicht, sondern verurteilen es vielmehr. Gleichzeitig nimmt sich unser Staatsoberhaupt die Freiheit, der ganzen Welt Lehren über die Einhaltung der Menschenrechte zu erteilen. (…) Doch wir sind heute hier, weil die Migrationspolitik dieses Landes, das angeblich zu den fortschrittlichsten in Bezug auf die Menschenrechte gehört, in Wirklichkeit die Schwelle einer bewusst herbeigeführten Barbarei erreicht hat. (…) Seit ihrer Wiedereinführung im Jahr 2015 vernichtet die hiesige Grenze zwischen Italien und Frankreich die Körper und Seelen von Menschen und weist das Leben zurück, das zu uns kommen will. Den Migrant·inn·en werden ihre Rechte verweigert, sie werden ihres Geldes beraubt und psychologischem Druck ausgesetzt, um sie zu entmutigen. Sie werden auf der Strasse ausgesetzt, wenn ihr Zustand Pflege oder sogar einen Krankenhausaufenthalt erfordern würde. Sie werden verfolgt und gejagt wie Wild. Sie werden mit Schlägen, Fusstritten, Drohungen und Beleidigungen empfangen. Man stellt ihnen Fallen und sie werden wissentlich in Lebensgefahr gebracht.
Systematische Gewalt – ein Spiel?
Auf ihre Hilferufe zu reagieren, ist unsere Pflicht. Alles andere wäre «unterlassene Hilfeleistung für Menschen in Not». Wir hörten in diesem Winter von der Grenzpolizei und den Gendarmen, die uns verfolgt haben, folgende Worte, die wahrscheinlich gut mit deren Vorgesetzten abgestimmt waren: «Wie auch immer, wir werden Euch sowieso alle kriegen. Hier ist Endstation, Ihr müsst einen anderen Ort finden. Wenn Ihr ihn gefunden habt, werden wir Euch auch da aufspüren und Ihr müsst wieder woandershin. So ist das Spiel.» Handelt es sich wirklich um ein Spiel, bei dieser systematischen Wiederholung von Gewalt, Raub, Demütigungen, schweren Rechtsverletzungen und Drohungen gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe, oder trägt das Ganze einen ganz anderen Namen? Ist es ein Spiel, Hilfs- und Schutzmassnahmen für gefährdete Menschen zu vereiteln, mit Leben zu spielen wie mit Schachfiguren? (…) Ist es ein Spiel, das Engagement für Solidarität, Brüderlichkeit und Menschlichkeit zu unterdrücken und zu entmutigen, mit dem Ziel, uns einzuschüchtern und zu verfolgen? (…) Ist es ein Spiel, zu einem Labor für die Abschaffung der Grundrechte zu werden, (…) das die Rechtsstaatlichkeit sowie die Demokratie untergräbt? Ist es ein Spiel, Diener eines völlig unverhältnismässigen Kriegssystems gegen diejenigen Menschen zu sein, die in jeder Hinsicht entwaffnet sind, oder handelt es sich vielmehr um Unmenschlichkeit? (…) Ist es ein Spiel, sich taub zu stellen gegenüber den Gefahren und Leiden, welche diese Politik mit sich bringt, die von den Interessen der Wohlhabenden geleitet wird? Denen es nur darum geht, die Sicherheit ihres persönlichen Vermögens sowie die Fülle ihres Reichtums zu wahren und ihre Macht und Gier nach Dividenden auszuleben; die alles dafür tun, um die Plünderung unseres Planeten und die Aneignung der Gemeinschaftsgüter zu ihren Gunsten fortzusetzen? (…)
Organisierte Entmutigung ist kein Spiel
Nein, das ist kein Spiel. Es liegt an Dir, den Mut zu haben, es zu stoppen! Was hier vor sich geht, ist ernst. Es ist kein Spiel, sich vor der Polizei verstecken zu müssen, nur weil man da ist, um Leben zu retten. Es ist kein Spiel, das System anzuprangern, von dem die Grenze nur ein Vorgeschmack ist. Es handelt sich um ein System, das beschlossen hat, es den Menschen zu verleiden, in Frankreich bleiben zu wollen, indem es ihnen das Leben unerträglich macht. Es zielt darauf ab, diese in noch schlechtere Bedingungen zu versetzen als sie in den Herkunftsländern der Geflüchteten existieren. Wir haben es mit einem System zu tun, das permanent auch den geringsten Schutz zerstört, die Menschen zu Boden wirft und die Entmutigung organisiert, damit sie niemals ankommen können und immer von vorne anfangen müssen.
Es ist kein Spiel, die geogra-
fische Trennung zwischen den Gebieten des Elends und den Orten des Überflusses, zwischen Rechtlosen und Privilegierten anzuprangern. Denn dieses Elend ist das Ergebnis des Aufbaus eines ungerechten Produktionssystems durch vollkommen absichtlich hergestellte Herrschaftsbeziehungen. Die Beispiele, wie Armut konstruiert wird, sind endlos. Diese Armut basiert auf der Zerstörung des wirtschaftlichen und sozialen Gefüges und der Ökosysteme durch die Länder der ehemaligen Kolonialmächte. Sie haben die Herkunftsgebiete der Migrant·inn·en, die jetzt zu uns kommen, unlebbar gemacht und verfolgen bei sich zu Hause eine Politik, die darauf abzielt, das Leben derselben Exilant·inn·en auf unserem Staatgebiet unerträglich zu machen.
Eine andere Zukunft ist kein Spiel
(…) Es ist kein Spiel, die Menschen daran zu erinnern, dass eine andere Politik möglich ist, eine Politik, die Antworten wie Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit fördert und nicht Reaktionen der Ablehnung und Gleichgültigkeit, welche Europa zum tödlichsten Ziel der Welt für diejenigen macht, die ein wenig Freiheit und Glück suchen. (…) Es ist kein Spiel zu denken, dass all dies das Erfinden einer radikal anderen Zukunft erfordert, in der eine Politik der Fürsorge für die Einzelnen es allen ermöglicht, die eigene Person zu entwickeln. Und jede Person sich dann wiederum um das Gemeinwohl kümmert, angefangen beim Schutz dieses Planeten. Es ist kein Spiel zu denken, dass es möglich ist, Platz bereit zu stellen, um andere Leben in unseren Raum hinein zu lassen. Zu denken, dass die Ankommenden etwas zu sagen haben über diese Welt und darüber, wer sie sind und was sie wünschen. Es als möglich zu erachten, dass das Zusammenleben mit Anderen die Angst, selber verdrängt zu werden, besiegen kann; dass menschliche Verantwortung und gegenseitiges Teilen stärker sind als Macht und Willkür. (…) Nein, es ist kein Spiel, über die Welt von morgen nachzudenken! Das bedeutet nur, sich verantwortlich zu zeigen. Benoit Ducos