An die Initiative «Alle an die Grenzen am 5. Juni»: Welch grossartige Idee von Euch Frauen und allen anderen daran Mitwirkenden, sich an der Grenze zwischen Ventimiglia und Nizza zu versammeln! Jünger – bald bin ich 97 – hätte ich mich auf die weite Reise von Hamburg gemacht, um bei euch zu sein.
Mit dem Begriff Grenze verbinde ich eine besonders traurige persönliche Erfahrung. Meine jüdische Familie war wegen des Naziregimes in alle Winde zerstreut. Meine Schwester Ruth Loewy glaubte sich in Holland in Sicherheit. 1942 erhielt ich den letzten Brief von ihr. Darin schrieb sie, dass sie sich dort mit einem ungarischen Juden verheiratet hatte und nun gemeinsam den Rabbiner Dr. Lothar Rothschild in Basel besuchen würden. Sofort verstand ich, dass sie vor den Deutschen, die Holland besetzt hatten, flüchten wollten.
Nach dem Krieg traf ich Menschen, die gleichzeitig mit ihnen zur Schweizer Grenze geflohen waren. Sie hatten es geschafft, über die Grenze zu kommen und hätten dabei gesehen, dass Ruth und ihr Mann Ischtwan von den Nazis erschossen wurden. Erst 2016 erfuhr ich über den Internationalen Suchdienst, dass Ruth am 6. November 1942 mit einem Transport von dem holländischen Sammel- und Durchgangslager Westerbork ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurde. Einen Monat später war sie tot. Die Sterbeurkunde lautet auf den 1. Dezember 1942. So musste ich viele Jahre später mit Schrecken feststellen, dass auch meiner Schwester Auschwitz nicht erspart geblieben ist.
Was will ich mit dieser Geschichte sagen? Die faschistischen Ideen hatten sich nach und nach in der grossen Mehrheit der deutschen Köpfe breitgemacht. Aber auch in den Nachbarländern war die Anhängerschaft gross. Juden, «Zigeuner», alle und alles, was nicht der «Norm« entsprach, war unerwünscht und war Freiwild. Viele dieser vom Tod bedrohten Menschen suchten nach einer sicheren Bleibe und fanden keine Aufnahme in europäischen und anderen Ländern der Welt. Je mehr Menschen flohen, desto stärker waren ihnen Grenzen und Häfen versperrt. Viele von ihnen hätten dem Konzentrationslager, dem Leiden und ihrer Ermordung entrinnen können, wenn der Weg in die Sicherheit für sie offen gewesen wäre.
Ich habe Auschwitz und Ravensbrück überlebt. Es ist meine Aufgabe, solange es in meinen Kräften steht, Zeugnis über das Geschehene abzulegen und vor den parallelen Entwicklungen in der Gegenwart zu warnen. Denn Nationalismus und rechte Gesinnung machen sich wieder breit.
Heute sind die Fluchtbewegungen weltweit. Millionen von Menschen fliehen vor Kriegen, Hunger und Verfolgung aus ihrer Heimat, um ihr Leben zu retten, um einen Ort zu finden, an dem sie menschenwürdig und in Sicherheit leben können. Im Mittelmeer und auf anderen gefährlichen Routen sind schon unzählige Menschen umgekommen. In improvisierten und institutionellen Lagern hausen Tausende und Abertausende unter schrecklichsten Bedingungen. Aber Europa exportiert weiterhin Waffen und schottet sich ab. Wenn ich mit Bejarano & Microfon Mafia auftrete, sage ich jedesmal: «Schaut in unsere Augen und seht die Entschlossenheit... Hört unseren Protest, unsere Gesänge, die Sehnsucht. Sehnsucht nach Menschlichkeit – das wichtigste Kapital der Erde, der Menschheit». Wir müssen immer zahlreicher werden.
Eure Initiative gibt Hoffnung! Ich danke Euch.
Esther Bejarano, Hamburg, im Mai 2021ehemals Sängerin und Akkordeonistin des Mädchenorchesters von Auschwitz, heute Sängerin mit Bejarano & Microphone Mafia, Vorsitzende des Auschwitz-Komitees Deutschland
Ehrenpräsidentin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Deutschland