Wir waren an die fünftausend Demonstrierende am 5. Juni in Nizza bei der Aktion «Toutes aux frontières», um voller Energie auf die Situation der geflüchteten Frauen, Mädchen und LGBTIQ+-Personen aufmerksam zu machen – vor, während und nach ihrer Migration.
Angereist – zum Teil mit dem Fahrrad – aus verschiedenen Regionen Europas – trafen wir uns am 5. Juni in Nizza, um gegen die mörderische Grenzpolitik Europas zu demonstrieren.
Ein voller Bus aus Italien wurde an der französischen Grenze angehalten und nicht durchgelassen. Die Anreisenden aus Österreich, der Schweiz und Belgien konnten jedoch ungehindert einreisen. Eine Horde Rechtsradikaler wollte am Anfang die Demonstration stören; sie wurden aber sehr schnell von der Polizei festgenommen.
Im Rhythmus der Batukada, singend und tanzend, bewegten wir uns durch die Innenstadt, liessen unsere Fähnchen im Wind flattern und verkündeten unsere Forderungen. An einigen Stellen machten wir eine Pause, um denen zuzuhören, die uns ihre Geschichte erzählten, ihre Lieder vorsangen, ihre Initiativen vorstellten. Eine sehr junge Frau, aus Eritrea hat mich besonders beeindruckt: Weil sie lesbisch ist, wurde sie als Jugendliche von ihrer Familie verstossen und – endlich in Nizza angekommen – hier wegen ihrer Hautfarbe und ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert. Nach einiger Zeit gründete sie, gemeinsam mit anderen, einen Verein zur Unterstützung lesbischer Migrantinnen. Sie bedankte sich weinend bei allen, die gekommen waren, um mit ihr zu demonstrieren.
Während des ganzen Verlaufs stand Pinar Selek, die diese Aktion zusammen mit anderen ins Leben gerufen hatte, auf dem Camion, der als rollende Bühne diente, kündigte die verschiedenen Rednerinnen an und appellierte an Zusammenhalt und Ruhe, als zwei junge Schweizer Demonstrantinnen wegen einer Lappalie von der Polizei angehalten und festgenommen wurden. (Sie wurden im Laufe des Abends wieder freigelassen.)
Im Grossen und Ganzen verlief die Demonstration jedoch friedlich, freudvoll und in der Perspektive, weitere solche Aktionen zu organisieren und eine Petition an die Europäischen Regierungen zu formulieren, dessen Entwurf wir hier abdrucken. Die Petition soll im Herbst verbreitet werden und Anfang nächsten Jahres mit so vielen Unterschriften wie möglich, dem Schweizer Bundesrat und den europäischen Regierungen übergeben werden. In einer der nächsten Nummern werden wir die definitive Petition dem Archipel beilegen. Sie können auch dieses Video ansehen, um einen Eindruck von der Demonstration zu bekommen: https://youtu.be/18rU3HBqgww
Constanze Warta, EBF
Petitionsentwurf nach der Aktion «Toutes aux frontières» in Nizza
Wir, Einwohner·innen von Europa und der Welt, fordern von der EU-Kommission und den nationalen Regierungen des Schengen-Raums die systematische Anerkennung von spezifischen Fluchtgründen von Frauen, Mädchen und LGBTIQ+-Personen*.
– Weil Frauen, Mädchen und LGBTIQ+-Personen spezifische Unterdrückung erleiden, die sie dazu zwingt zu fliehen, um sich zu schützen: darunter häusliche, sexistische und sexualisierte Gewalt, Zwangsprostitution oder jede andere Form von Ausbeutung, Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, Menschenhandel, diskriminierende Gesetze. – Weil Frauen, Mädchen und LGBTIQ+-Personen während des ganzen Fluchtweges, in besonderem Masse Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt sind: wie bspw. sexualisierter Gewalt in den Flüchtlingscamps, sexuelle Ausbeutung in den Schleppernetzwerken in den Transitländern – auch in den europäischen. – Weil die Frauen, Mädchen und LGBTIQ+-Personen, die nach Europa kommen, um Asyl zu ersuchen, ein Recht auf Schutz haben, jedoch ihre spezifischen Bedürfnisse ignoriert werden: Die Asylverfahren ermöglichen es nicht, Opfer von geschlechtsbasierter Gewalt oder Menschenhandel zu erkennen, die Unterbringungsstrukturen sind ungeeignet, die Unterstützungsmassnahmen fehlen.
Unsere Forderungen:
- Frauen, Mädchen und LGBTIQ+-Personen durch eine systematische Anerkennung ihrer spezifischen Fluchtgründe, das Recht auf Schutz zu garantierten. Derzeit werden in Europa die spezifischen Asylgründe von Frauen, Mädchen und LGBTQI+ Personen kaum anerkannt. Um diese Anerkennung zu garantieren, müssen die besonderen Bedürfnisse dieser Personen in allen Phasen des Asylverfahrens und der Aufnahme berücksichtigt werden. Dazu gehört der systematische Zugang zu Strukturen zur Identifizierung und Unterstützung von Opfern von Menschenhandel und Gewalt aufgrund des Geschlechts und der nicht-heterosexuellen sexuellen Orientierung. Die Anwesenheit von Sozialarbeiterinnen, Übersetzerinnen, Pflegepersonal und Juristinnen weiblichen Geschlechts in den Unterkünften und Aufnahmezentren muss ebenfalls garantiert sein. Die Inhaftierung von Frauen, Mädchen und LGBTIQ+ Personen im Exil muss verboten werden. Die Anwendung der Dublin-Verordnung muss der Vulnerabilität der Menschen Rechnung tragen: Die Souveränitätsklausel muss für Frauen, Mädchen und LGBTIQ+-Personen systematisch angewendet werden.
Wir fordern, dass die Europäische Kommission und die nationalen Regierungen die notwendigen Mittel bereitstellen, um angemessene Strukturen für die effektive Anerkennung der spezifischen Asylgründe von Frauen, Mädchen und LGBTQI+ Personen zu schaffen.
Aufbau einer europäischen Überwachungsinstanz, durch welche die systematische Anwendung der Artikel 60 und 61 der Istanbul-Konvention und der Artikel 10 und 16 der Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels sichergestellt wird. Ziel der Artikel 60 und 61 der Istanbul-Konvention ist es, nationale Gesetzgebungen im Einklang mit der Istanbul-Konvention zu schaffen und ihre effektive Umsetzung in allen Unterzeichnerstaaten sicherzustellen. Die Konvention fordert die Anerkennung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen als eine Form von Verfolgung und als eine Form von ernsthaftem Schaden, der zu Schutz berechtigt; sie fordert geschlechtersensible Aufnahme- und Asylverfahren (einschliesslich der Gewährung des Flüchtlingsstatus und des internationalen Schutzes) und Unterstützungsdienste mit geschlechtsspezifischen Leitlinien. Die Istanbul-Konvention bekräftigt den Grundsatz der Nichtzurückweisung, der für alle Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt gilt. Artikel 10 bis 16 des Übereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels: Die Einhaltung dieses Übereinkommens garantiert den Zugang zu fairen und wirksamen Asylverfahren, ermöglicht den Zugang zu Hilfe und gewährleistet den Schutz und die Entschädigung der Opfer von Menschenhandel.
Den Zugang zu Asyl für Frauen, Mädchen und LGBTQI+-Menschen zu garantieren. Der im September 2020 von der Europäischen Kommission vorgelegte Entwurf des Europäischen Pakts zu Migration und Asyl basiert auf drei Säulen – Verteidigung, Kriminalisierung und innere Sicherheit –, die eher die Interessen der EU als die der Migrant·inn·en vertreten: ein strengeres Grenzregime, beschleunigte Grenzverfahren, Entlastung von Nicht-EU-Drittstaaten bei der Aufnahmepflicht, verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten wie der Türkei und erleichterte Abschiebungen sind die Hauptachsen dieses neuen Pakts. Der europäische Migrationspakt zielt darauf ab, die Grenzen und sogar die Aufnahmestellen für Flüchtlinge nach aussen zu verlagern, wodurch es noch schwieriger wird, in Europa Asyl zu beantragen, und es unmöglich wird, sich mit einem Asylantrag an die Botschaften der europäischen Länder in der Welt zu wenden. Wir verurteilen diesen Paktentwurf, der die Rechte von geflüchteten Personen schwächt und die Festung Europa zementiert, und fordern erleichterte legale Wege für Frauen, Mädchen sowie LGBTQI+- Personen, zu einem Asylantrag in Europa.
*L – lesbisch, G – gay (homosexuell), B – bisexuell, T – transsexuell, Q – queer (fühlt sich nicht zu einem definierten Geschlecht zugehörig), I – intersexuell (weder eindeutig weibliches noch eindeutig männliches Geschlecht), + – und alle weiteren.