Mehr als 250.000 Gefangene aus den verschiedenen Konzentrationslagern sind während den Todesmärschen zwischen Januar und Mai 1945 ums Leben gekommen. Viele von ihnen wurden von deutschen Zivilisten ermordet. Die deutsche Übersetzung von Daniel Blatmans* ausführlicher Studie über die letzte Phase der Vernichtungspolitik der Nazis wurde soeben veröffentlicht.
Im Gegensatz zum eigentlichen Holocaust hat sich diese Etappe des Genozids nicht fernab im Osten, in Polen oder der Sowjetunion abgespielt, sondern auf den Straßen, Feldern, Dörfern und Städten Deutschlands und Österreichs. Die Mörder waren nicht alle Mitglieder der SS, der Wehrmacht oder verschiedener Polizeieinheiten. Abgestumpft durch den Krieg und indoktriniert durch die Nazis haben sich gewöhnliche Bürger aller Altersgruppen am Massaker gegen diese „Volksfeinde“ beteiligt. Dieses Buch zeichnet ein schockierendes Bild der deutschen Gesellschaft nach zwölf Jahren Naziherrschaft.
Die Mehrheit der Todesmärsche startete in Polen. Als die Front näher rückte, begannen die SS, die großen Lager wie Auschwitz, Majdanek und Stutthof zu räumen und warfen so Tausende von Gefangenen auf die Straßen. Diese mischten sich unter das Chaos der sich zurückziehenden Wehrmacht, von Zivilpersonen und Kollaborateuren, die vor der näher rückenden Roten Armee flohen. Das Beispiel gab die SS, die überall Häftlinge massakrierte. In Ostpreußen z.B., unweit von Kaliningrad (ehemals Königsberg), trieben sie 3.000 ehemalige Häftlinge des KZ Stutthof auf einen Strand der gefrorenen Ostsee und ermordeten sie mit Maschinengewehren. Ein paar Wochen später irrten zahlreiche Menschengruppen ohne sichtbare Logik kreuz und quer durch Deutschland. In Bayern z.B. fand man nach dem Krieg zahlreiche Massengräber entlang dem Verlauf der Todesmärsche von den Gefangenen, die Dachau, unweit von München, verlassen hatten. Blatman schätzt, dass Tausende oder sogar Zehntausende gewöhnliche Bürger sich an diesen Massenmorden beteiligt haben.
Jagd und Massaker
Am 8.April 1945 fand in Celle, Niedersachsen, eine regelrechte Menschenjagd statt gegen die Überlebenden eines KZs, die es geschafft hatten, während eines alliierten Luftangriffs auf dem Bahnhof aus ihren Güterwagen zu entkommen. Durchgeführt wurde das Morden von Überbleibseln der Hitlerjugend und gewöhnlichen Bürgern. Über 300 ehemalige Häftlinge wurden rund um die Stadt „wie Tiere abgeschlachtet“, oft exekutiert. Vier Tage später besetzten die Alliierten die Stadt.
Viele dieser Märsche endeten auf katastrophale Weise. In Gardelegen wurden Überlebende eines Todesmarsches in eine Scheune eingesperrt. Bauern und Anwohner, bewaffnet mit Jagdgewehren, bewachten die Scheune, Jugendliche schrien, sie gingen „Zebras jagen“. Zum Ende begossen sie die Scheune mit Benzin und warfen Handgranaten hinein. Ungefähr tausend Gefangene starben in den Flammen. Ein paar Tage später, nachdem die Amerikaner die Stadt befreit hatten, wurden die Bewohner gezwungen, an der Beisetzung der Opfer teilzunehmen.
Warum sind die untergeordneten und lokalen Verantwortlichen so brutal vorgegangen, wo es doch offensichtlich war, dass der Krieg verloren war und dass das Dritte Reich zusammenbrechen würde? Blatman versucht, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Es gibt keine Beweise, die darauf hindeuten, dass ein solches Vorgehen von oben befohlen wurde. Weder Hitler noch Himmler haben befohlen, die Lager zu schließen und alle Gefangenen zu vernichten (es gibt sogar Fälle, in denen Himmler befohlen hatte, Häftlinge am Leben zu erhalten, wahrscheinlich, um sich nach dem Krieg reinzuwaschen. Die Verantwortung für diese Märsche, die kreuz und quer durch Deutschland irrten, war nicht klar definiert und wechselte rasch je nach lokalen Gegebenheiten. Oft haben die lokalen Behörden auf eigene Verantwortung gehandelt. Im Nachwort beschreibt Blatman verschiedene Mechanismen, mit denen man versucht, das Morden in den Vernichtungslagern und im Osten zu erklären. Er versucht zu prüfen, ob diese Mechanismen auch eine Erklärung dafür liefern können, wieso sich die Bevölkerung so zahlreich und spontan an diesen Massaker der letzen Stunde beteiligt hat. Sicher handelt es sich hier nicht mehr um eine kalte, unpersönliche Bürokratie, wie sie typisch von Eichmann und dem Begriff der „Banalität des Bösen“ verkörpert wird. Die Befehlsstrukturen waren zu dem Zeitpunkt unterbrochen, die Zuständigkeiten nicht mehr klar definiert. Die übliche Ausrede, man habe ja nur dem Befehl gehorcht, funktioniert nicht mehr, denn es gab meistens keine klaren Befehle mehr. Der Gruppenzwang oder der Konformismus, den Christopher Browning erwägt, um zu erklären, wie es möglich war, dass gewöhnliche Männer sich an den Massenhinrichtungen in Polen beteiligten, kann nicht auf die Situation der Todesmärsche übertragen werden. Der Beschluss, jemanden zu erschießen, wurde hier oft individuell oder auf der niedrigsten Befehlsebene getroffen. Blatman betont das Chaos oder den Nihilismus der Situation, aber auch den individuellen Vorteil: „Was so aussieht wie eine Operation, die von fanatischer Ideologie geleitet wäre, war meistens von einem ganz einfachen persönlichem Interessenskalkül geleitet. Es ging um das Abwägen der Möglichkeiten und der Risiken im Bezug auf die Evakuationen, die Angst, in Gefangenschaft zu geraten, und den Wunsch, die eigene Familie vor der Gefahr und der tobenden Gewalt zu schützen“. Da wo Blatman die Rolle der Ideologie in den Massakern analysiert, geht er meiner Meinung nach nicht weit genug und widerspricht sich teilweise. Er behauptet einerseits, dass Tausende von Mördern während der Todesmärsche „keinesfalls antisemitisch noch Anhänger einer Rassenideologie zu sein brauchten“. Anderseits stellt er später richtig fest: „Das psychologische Umfeld, das den Massenmord ermöglicht hat, nährte sich insbesondere an der Identität der Opfer. Sie wurden definiert, nicht durch das, was sie gemacht hatten, sondern durch das, was man einer breiten Schicht der deutschen Gesellschaft glaubhaft hat machen können, was sie hätten machen können. (…) Diese Menschen verkörperten immer noch eine teuflische Bedrohung, und als es nicht mehr möglich war, sie durch die Arbeit zu erschöpfen, wurde es legitim, sie zu ermorden.“ Blatman behauptet, die Tatsache, dass viele der Opfer nicht Juden waren (die meisten waren zu diesem Zeitpunkt schon ermordet) zeigt, dass man es hier nicht mit derselben Ideologie zu tun hat. Aber der Antisemitismus war in der Ideologiebildung der Nazis von zentraler Bedeutung, und die Stigmatisierung bestimmter Gruppen als Bedrohung oder Parasiten hat sich nie um die effektive Realität geschert. In der Definition dessen, wer der „Fremde“ war, der die Identität des Volkes bedrohe, hat der Jude eine zentrale Rolle eingenommen, auch wenn die Zuschreibung vom „Asiaten“ ebenfalls wichtig war. Im Gegensatz zu Blatman glaube ich, dass Daniel Goldhagen Recht hat, wenn er von einem radikalen, mörderischen Antisemitismus spricht, um das Verhalten einfacher Leute in der Phase der Todesmärsche zu erklären.
Es gibt noch einen anderen Aspekt der nationalsozialistischen Ideologie, dem der Autor wenig Beachtung schenkt, nämlich den, eine Mehrheit der Deutschen überzeugt zu haben, dass es unvorstellbar sei, den Krieg zu verlieren. Den Krieg verlieren und verhandeln war in ihrer Ideologie begrifflich nicht vorstellbar. Es war gewinnen oder untergehen. Hitler hatte gesagt, dass das deutsche Volk nicht verdient habe, weiter zu existieren, wenn es nicht gewinne. Diese Einstellung erklärt auch, mit welcher Verbissenheit sich die Wehrmacht während des ganzen Rückzugs aus Russland geschlagen hat, obwohl am Kriegsausgang schon längst nichts mehr zu ändern war.
Dieses umfangreiche Buch ist das Ergebnis von zehn Jahren Forschung und liefert viele wichtige Informationen betreffend diesen spezifischen Teil der Massenvernichtung, der noch relativ wenig dokumentiert ist. Blatman geht der Frage nach, wie es möglich war, dass gewöhnliche Menschen sich an den Massakern gegen überlebende Häftlinge beteiligten, obwohl von diesen ganz offensichtlich keine Bedrohung ausging. Die Häftlinge waren von ihren Haft- und Arbeitsbedingungen so geschwächt, dass viele von ihnen, die den Krieg überlebt hatten, kurz darauf an den Spätfolgen starben. Ein reines Interessenskalkül hätte darin bestehen können, Gefangene zu retten oder mindestens in letzter Stunde nicht an deren Ermordung teilzunehmen, um sich im Hinblick auf die zu kommende Ordnung zu „positionieren“. Aber was das gesamte Ausmaß der Massenvernichtung angeht, gibt es noch viele dunkle Stellen, deren Ausleuchtung schwierig ist. Aus diesem Abgrund ist es für die Menschheit nicht so einfach, zu entkommen. Aber sicher ist die historische Forschung, wenn sie nicht ideologisch instrumentalisiert wird, z.B. um die bürgerliche Demokratie zu rechtfertigen, unentbehrlich, um sich mit diesem Kapitel der Vergangenheit zu konfrontieren.
* Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45, das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmordes, Rowohlt, Januar 2011, 864 S, 34,95 Euro, 978-3-498-02127-6