Diesen Sommer am 4. August (1) organisierten wir zusammen mit dem freien Radiosender Zinzine in Südfrankreich eine Reihe von Diskussionen über Privilegien gestern und heute, wie diese definieren und neu definieren, wie ihre tatsächliche Abschaffung vorantreiben. Dazu sprachen wir mit Eléonore Lépinard, die gemeinsam mit Sarah Mazouz das Buch „Pour lʼintersectionnalité“ (2) veröffentlicht hat.
Archipel (A): In Ihrem Buch thematisieren Sie das „weisse Privileg“. Über diesen neuen Ausdruck im soziologischen und politischen Vokabular wird viel debattiert und er löst Proteste aus. Auf jeden Fall ist er sehr lebendig.
Eléonore Lépinard (EL): Ja, unbedingt. Ihre Aussage trifft vor allem für die frankophone Welt zu. Aber in den USA verdanken wir die Wiederkehr oder das Erscheinen des Begriffs „weisses Privileg“ in der öffentlichen Debatte seit 2014 mit der „Black lives matter“-Bewegung. Der Begriff selbst ist allerdings viel älter. Seit 20 bis 30 Jahren bereits wird in der akademischen Welt von „weissem Privileg“ gesprochen. Die Autorin Peggy McIntosh wird dabei oft zitiert. Sie ist eine der ersten, die die Frage des Weiss-Seins, dieser rassischen Identität der Mehrheitspersonen, in der Form des Privilegs formulierte. In einem Text von 1989, also vor einigen Jahren schon, verwendet sie die Metapher des „unsichtbaren Rucksacks“3. Sie sagt, weiss sein ist das Besitzen eines unsichtbaren Rücksacks, der angefüllt ist mit Ressourcen, Möglichkeiten und Freiheiten. Ein ganzes Paket von Besitztümern, für die wir uns nicht durchkämpfen mussten, mit dem wir ausgestattet sind, ohne es zu merken, aber der uns den Zugang zu vielen Dingen erlaubt, zu denen nicht-weisse Menschen keinen Zugang haben.
A: Etwas, dessen wir uns nicht immer bewusst sind, selbst wenn oft von der weissen Dominanz in der Welt gesprochen wird. Wir erkennen sie nicht unbedingt in unseren Gesellschaften, vor allem nicht in den Vorstellungen von Leuten, die sich sozial und politisch eher links verorten und die von sich sagen „aber nein, ich bin nicht rassistisch“.
EL: Ja, genau. Der Begriff des weissen Privilegs oder weiter gefasst das Konzept von Weisssein, das in den Sozialwissenschaften benutzt wird, dient genau dazu, einen Versuch zu unternehmen, diese Identität zu bezeichnen und was sie impliziert, ihre Besonderheit, nämlich dass sie für ihre Besitzer_innen unsichtbar ist. Er ist nicht gemacht, um Voreingenommenheit oder bewusste negative Vorurteile zu bezeichnen. Er ist dafür gemacht, etwas Anderes zu bezeichnen, das sozial konstruiert ist und das besessen wird, ohne dass es bewusst ist. Es ist also eine einerseits unsichtbare Dimension, wie es die Metapher des unsichtbaren Rucksacks ausdrückt, und zugleich eine passive. Wir machen nämlich nichts, um diese Privilegien zu haben. Das ist das Besondere dieses Privilegs, dass es besessen werden kann, ohne etwas dafür zu tun. Es gibt also eine Form von Passivität im Besitzen dieser Vorteile und Privilegien, die diese vor unseren eigenen Augen unsichtbar macht – natürlich nur sofern wir selbst Teil dieser Mehrheitsgruppe sind. Deshalb ist dieses Privileg auch so schwer zu dekonstruieren; schon allein es aufzuzeigen, konfrontiert uns oft mit Widerstand, denn sobald versucht wird, dieses Phänomen zu erklären, wird typischerweise geantwortet: „Ich bin nicht rassistisch, ich bin Antirassist·in, was soll das denn alles, nein, nein, nein.“ Tatsächlich geht es überhaupt nicht darum, bewusste Rassismen zu erklären oder zu bezeichnen. Es ist nicht dasselbe, sich Rassismus bewusst zu machen oder ihm als ideologischem Rahmen beizupflichten.
Allerdings versuchen wir zum Beispiel auf die Tatsache hinzuweisen, dass eine weisse Person nicht so schnell von der Polizei verhaftet wird. Wir haben eine Bewegungsfreiheit, wir haben einen viel leichteren Arbeitsmarktzugang. Wir haben auch die Freiheit zu Sprechen, ohne unterbrochen zu werden, vor allem wenn wir ein weisser Mann sind, mehr noch als eine weisse Frau. Das ist ein ganzes Bündel von Sachen, die Selbstverständlichkeiten sind, sofern mensch weiss ist, und die nichts Selbstverständliches an sich haben, wenn mensch es nicht ist. Darum geht es. Das wollen wir aufzeigen. Natürlich meint das auch, dass weisse Personen sich meistens als Norm in unseren Gesellschaften denken. Sie sind Teil der Mehrheitsgruppe. Es geht auch um diese Fähigkeit, sich selbst als die Norm und als das Gute vorzustellen, sich unter dem Deckmantel des Universellen zu sehen, immer die eigene Position zu generalisieren, den eigenen Blickwinkel, die eigenen Forderungen.
A: Aber es kann ja auch sein, dass wir ein „kleiner Weisser“ sind, wie das so genannt wird, und in einer sozial niedrigeren Position sind als zum Beispiel einige schwarze leitende Angestellte, denen wir begegnen. An genau diesem Punkt kommt Intersektionalität, an deren Definition Sie sich beteiligen, als Werkzeug ins Spiel.
EL: Ja, richtig. Ebenso wie nicht alle weissen Männer und Frauen gleich sind, sind auch alle schwarzen Männer und Frauen nicht sozial gleich. Es braucht einen Moment, um sich dieser Komplexität bewusst zu werden. Tatsächlich ist eine weisse Person aus einem unteren Milieu relativ bevorteilt gegenüber einer nicht-weissen Person aus demselben Milieu. Im Gegensatz dazu aber wird die Situation anders sein in Bezug auf eine nicht-weisse Person, die aus einem privilegierteren Milieu kommt. Aber das ist keine einfache Anhäufung. Wir können nicht sagen, dass eine weisse Person aus der Unterschicht, oder ein „kleiner Weisser“, wie Sie das genannt haben, mit Sicherheit schlechter wohnt als eine rassifizierte Person, die leitende·r Angestellte·r in einer Firma ist. Das ist keine einfache Anhäufung, denn wer wird wohl in der Metro verhaftet werden? Wer wird nach den Papieren gefragt? Oder wer wird ein Bussgeld wegen einer oft begangenen Ordnungswidrigkeit erhalten? Das kann trotzdem die schwarze Person sein, selbst wenn sie leitende·r Angestellte·r ist. Und andererseits, wenn wir die Einkommen betrachten, wer wird da wie positioniert sein beim Zugang zu bestimmten Gütern, wer wird seine Position verteidigen können? Da, ja, da kann es die Person sein, die in leitender Funktion arbeitet.
Wir können also nicht einfach addieren, denn die Frage der weissen Identität bestimmt die Beziehung, die wir zum Staat und den Ordnungskräften haben. Genau deshalb ist das Thema ja im Zuge der „Black lives matter“-Bewegung aufgekommen. Die Frage nach der staatlichen Gewalt und wie sehr wir davon Opfer sind, der Risiken, die wir haben, in den Händen des Staates zu sterben, zum Beispiel, ganz sicher wird dieses Risiko kleiner sein, wenn wir zur Oberschicht gehören, aber sie werden bedeutend bleiben, wenn wir nicht weiss sind, und das gilt für die europäischen Gesellschaften ebenso wie für die USA, Lateinamerika, etc.
Die Intersektionalität lädt uns ein, wirklich komplexer zu werden: Die sich überschneidenden sozialen Beziehungen machen, dass wir uns in einer privilegierteren oder relativ unvorteilhaften Position befinden, aber immer in Bezug auf bestimmte Herausforderungen oder bestimmte soziale Interaktionen und nicht jederzeit und immer.
A: Wir sehen, dass das wichtig ist. Es verhilft zu einem besseren Verständnis darüber, wie sich unsere Gesellschaften entwickeln. Allerdings ist es ein Konzept, das mit mehr oder weniger gutem Willen diskutiert wird, das umstritten ist und natürlich ebenso auch manchmal attackiert wird, eben auch in Ihrem Fachgebiet, den Sozialwissenschaften. Zum Beispiel im ziemlich neuen Buch von Stéphane Beaud und Gérard Noiriel: „Race et sciences sociales. Essai sur les usages publics d'une catégorie“ (4) [dt. „Rasse und Sozialwissenschaften. Versuch über die allgemeinen Nutzungen einer Kategorie“], das den identitätspolitischen Aspekt dieses Blickwinkels unterstreicht oder quasi ausschliesslich diesen Aspekt betrachtet.
EL: Tatsächlich ist das eine Kritik, die wir oft hören. Wir diskutieren sie übrigens auch im kleinen Buch „Pour lʼintersectionnalité“ mit Sarah Mazouz. Genauer gesagt, beginnen wir unter anderem genau dort. Diese Kritik ist nicht gut fundiert, weil beispielsweise eine der Pionierinnen oder zumindest eine der Theoretikerinnen, die die Frage nach der komplexen Überlagerung von verschiedenen Machtbeziehungen sehr voran getrieben hat, Angela Davis ist. Sie hat das Buch „Women, Race & Class“ (5) geschrieben. Unter den Begründerinnen dieser Analyse-Strömung in den Sozialwissenschaften gibt es viele marxistische schwarze Feministinnen, für die zum Beispiel Klasse ein sehr wichtiges Konzept ist. Wir reden ja nicht von Identität, weil wir von Rasse reden. Das ist lustig, denn wenn von Klasse gesprochen wird, wird anscheinend nicht von Identität gesprochen. Tatsächlich wird niemandem in den Sozialwissenschaften Essenzialismus vorgeworfen, wenn sie oder er sich mit der Soziologie der sozialen Klassen befasst. Obgleich solche Soziologie sehr essentialisierend betrieben werden kann, indem Menschen immer wieder auf diese Identität festgelegt werden, als sei sie eine Essenz, aus der sie sich nicht befreien können.(6) Durchaus lässt sich über Rasse sprechen, ohne zu essentialisieren. Wir können über Rasse als soziale Beziehung sprechen, weil es genau das ist, eine soziale Beziehung. Es geht nicht darum, die Menschen festzulegen. Im Gegenteil. Die Menschen werden durch soziale Machtbeziehungen festgelegt. Es geht darum, aufzuzeigen, wie diese Zuschreibungen funktionieren und wie Menschen versuchen, ihnen zu entkommen. Es ist genau das Gegenteil davon, Menschen auf ihre Identität reduzieren zu wollen.
Das Interview realisierte Alex Robin für Radio Zinzine und Archipel
- In der Nacht vom 4. August 1789, im Zuge der Französischen Revolution, stimmte die verfassungsgebende Nationalversammlung für die Abschaffung der feudalen Privilegien.
- [dt. „Für die Intersektionalität“] https://anamosa.fr/livre/pour-lintersectionnalite/. Eléonore Lépinard ist Soziologin und Professorin für Gender Studies an der Universität Lausanne. Sarah Mazouz ist Soziologin, forscht am CNRS (Ceraps) und ist Mitglied des „Institut Convergences Migrations“. Beide sind Autorinnen von zahlreichen Veröffentlichungen.
- In White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack https://psychology.umbc.edu/files/2016/10/White-Privilege_McIntosh-1989.pdf
- Agone, in der Reihe „Epreuves sociales“ [dt. „Soziale Bewährungsproben“], 2021.
- Erstausgabe: Vintage Books, New York 1981 . Deutsche Ausgabe: „Rassismus und Sexismus. Schwarze Frauen und Klassenkampf in den USA.“ Elefanten Press, Berlin 1982.
- Essentialisierung ist die Festschreibung des anderen auf seine Andersartigkeit bzw. des Eigenen auf seine ursprüngliche Wesenheit (Essenz).