Wir haben keine Antworten; wir haben Fragen. Wir wissen nicht, wie wir die vom Kapital verursachte Zerstörung des Planeten aufhalten können – aber indem wir die richtigen Fragen stellen, können wir einen gemeinsamen Weg nach vorne finden.
Das System, in dem wir leben, ist gescheitert. Jeden Tag wird deutlicher, dass die derzeitige Organisation der Gesellschaft ein Desaster ist, dass der Kapitalismus nicht imstande ist, annehmbare Lebensformen zu gewährleisten. Die COVID-19-Pandemie ist kein natürliches Phänomen, sondern das Resultat der Zerstörung der Artenvielfalt. Sehr wahrscheinlich kommen noch andere Pandemien auf uns zu. Die Erderwärmung, die menschliches und viele Formen nicht-menschlichen Lebens bedroht, ist das Ergebnis der kapitalistischen Zerstörung von bestehendem Gleichgewicht. Geld als die vorherrschende Masseinheit für gesellschaftlichen Wert anzuerkennen, bedeutet, einen Grossteil der Erdbevölkerung in prekäre Lebensverhältnisse zu drängen. Die Zerstörung durch den Kapitalismus schreitet immer schneller voran. Wachsende Ungleichheit, ein Anstieg rassistischer Gewalt, die Ausbreitung des Faschismus, steigende Spannung zwischen Staaten und die Konzentration von Macht in den Händen von Polizei und Militär. Der Kapitalismus, der auf einer stetig wachsenden Verschuldung aufbaut, ist früher oder später zum Zusammenbruch verurteilt.
Die Bedrohung ist akut, wir Menschen stehen vor der realen Möglichkeit unserer eigenen Auslöschung. Wie können wir dieser entkommen? Die traditionelle Antwort derer, die sich des Ausmasses der sozialen Probleme bewusst sind, ist: durch den Staat. Denker und Politiker von Hegel bis Keynes sowie Roosevelt und nun Biden sehen den Staat als Gegengewicht zu der Zerstörung, die das Wirtschaftssystem anrichtet. Die Staaten werden das Problem der Erderwärmung lösen, die Staaten werden der Zerstörung der Biodiversität ein Ende setzen, die Staaten werden die Armut lindern, welche durch die gegenwärtige Krise verschärft wird. Wählen Sie nur die richtigen Anführer – Sanders oder Corbyn oder Die Linke oder Podemos oder Evo Morales oder Maduro oder López Obrador – und alles wird gut.
Das Problem mit diesem Argument ist, dass die Erfahrung uns sagt, dass das so nicht funktioniert. Linke Anführer haben ihre Versprechen nie gehalten, haben die Veränderungen, die sie angekündigt haben, nie herbeigeführt. In Lateinamerika werden linke Politiker, die während der so genannten Rosa Welle zu Beginn dieses Jahrhunderts an die Macht kamen, mit Extraktivismus und anderen Formen destruktiver Entwicklungen in Verbindung gebracht. Der „Tren Maya“(1), das Lieblingsprojekt des mexikanischen Präsidenten Lopez Obrador, ist nur das jüngste Beispiel dafür. Linke Parteien und Politiker können vielleicht kleine Veränderungen bewirken, aber sie haben nichts getan, um die zerstörerische Dynamik des Kapitals zu brechen.
Der Staat ist nicht die Antwort
(…) Der Staat, der vom Kapitalismus getrennt zu sein scheint, wird vom Kapital geschaffen und braucht das Kapital, um zu existieren. (…) Der Staat ist aufgrund seiner Form gezwungen, die Akkumulation von Kapital zu fördern. (…) Der Staat erscheint als Zentrum der Macht, aber die Macht liegt in den Händen der Kapitalisten, d.h. der Personen, die ihre Existenz der Expansion des Kapitals widmen. In anderen Worten: Der Staat ist kein Gegengewicht zum Kapital: Er ist Teil derselben unkontrollierbaren Dynamik der Zerstörung. (…) Gerade jetzt, da die Pandemie überstanden scheint, sprechen Politiker·innen von der Notwendigkeit eines radikalen politischen Richtungswechsels, aber kein Politiker oder Regierungsbeamter schlägt vor, dass ein Teil dieses Richtungswechsels die Abschaffung des Systems sein muss, das auf dem Streben nach Profit basiert. Wenn der Staat also der Zerstörung durch den Kapitalismus keinen Riegel vorschieben kann, dann folgt daraus, dass wir unsere Anliegen nicht in die Hände von politischen Parteien legen können. Parteien sind Organisationen, die darauf abzielen, Veränderungen durch den Staat herbeizuführen. Versuche, radikale Veränderungen durch Parteien und die Übernahme staatlicher Macht herbeizuführen, haben in der Regel in der Schaffung von autoritären Regimes geendet, die mindestens genauso schlimm waren wie jene, die sie bekämpft hatten.
Fragend gehen wir
Also wenn der Staat keine Antwort ist, wohin gehen wir dann? (…) Die Gefühle von Wut und Verzweiflung sowie das Bewusstsein, dass dieses System nicht funktioniert, sind weit verbreitet. Aber warum wird diese Wut entweder von linksreformistischen Parteien oder deren Kandidaten (Die Linke, Sanders, Corbyn, Tsipras) aufgefangen oder aber von der extremen Rechten, anstatt dass sie die Bemühungen verstärkt, welche gegen das System und über dieses hinaus gehen? Es gibt viele Erklärungen dafür, aber eine, die mir wichtig erscheint, ist der Kommentar von Leonidas Oikonomakis(2) zur Wahl von Syriza in Griechenland im Jahr 2015, dass sogar nach Jahren von heftigen Protesten gegen die Sparpolitik des Staates, derselbe Staat für die Menschen immernoch „das einzig mögliche Spiel“(3) zu sein schien. Wenn wir an die Erderwärmung denken, an Gewalt gegen Frauen, an die Kontrolle der Pandemie, an die Lösung der Wirtschaftskrise usw., fällt es immer noch schwer, nicht zu glauben, dass der Staat die Antworten hat.
Doch vielleicht müssen wir die Idee von Antworten aufgeben. Wir haben keine. Es kann nicht darum gehen, anarchistische Antworten den staatlichen entgegenzusetzen. Der Staat gibt Antworten, aber die falschen. Wir haben stattdessen dringende neue Fragen, weil es diese Situation der drohenden Auslöschung noch nie gegeben hat. Wie können wir die zerstörerische Dynamik des Kapitals stoppen? Die einzige Antwort, die wir bisher haben: Wir wissen es nicht. (…) Wenn wir Fragen haben, aber keine Antworten, so müssen wir zusammen diskutieren, um einen Weg nach vorne zu finden. „Preguntando caminamos“, sagen die Zapatist·inn·en: „Fragend gehen wir.“ Dies ist das Gegenteil der Politik des Staates, der redet und so tut, als ob er zuhört, aber sich nicht aus den Zwängen des Profitstrebens befreien kann.
Der Prozess des Fragens und Zuhörens ist nicht der Weg in eine andere Gesellschaft, er ist bereits der Keim einer anderen Gesellschaft. Wir fragen und hören zu, weil wir die Würde der anderen anerkennen. (…) Fragen-Zuhören ist eine anti-identitäre Bewegung. Deine Würde wird nicht anerkannt, weil du Anarchist oder Kommunistin bist, oder Deutscher, Österreicherin, Mexikaner oder Irin, oder weil du eine Frau, eine „Person of color“ oder ein Indigener bist. Etiketten sind sehr gefährlich, selbst wenn es „nette“ Etiketten sind, weil sie identitäre Unterscheidungen treffen. Zu sagen „wir sind Anarchist·inn·en“ ist ein Widerspruch in sich, weil es die identitäre Logik des Staates reproduziert: Wir sind Anarchist·inn·en – ihr nicht. Wenn wir gegen den Staat sind, dann sind wir auch gegen seine Logik, gegen seine Grammatik.
Eine selbstbestimmte Bewegung
Wir haben zwar keine Antworten, aber unser „Preguntando caminamos“ beginnt dennoch nicht bei Null. Gerade haben wir den 150. Jahrestag der Pariser Kommune und den 100. Jahrestag des Kronstädter Aufstands begangen. In der Gegenwart können wir uns von den Zapatist·inn·en inspirieren lassen, die gerade ihre Reise über den Atlantik vorbereiten, um sich in diesem Sommer mit den „Gehenden“ hier gegen das Kapital in Europa zu verbünden. Denken wir auch an die tief verwurzelte Praxis der Räte in der kurdischen Bewegung unter den äusserst schwierigen Bedingungen ihres Kampfes. Und dann noch die Millionen von Nischen, wo Menschen versuchen, sich auf einer antihierarchischen, wertschätzenden Basis zu organisieren. Es ist einfach nicht wahr, dass der Staat das einzig „mögliche Spiel“ ist. Wir müssen von den Dächern schreien, dass es ein anderes, altbewährtes Spiel gibt, nämlich Dinge selbst zu tun – als Kollektiv.
Die Organisation auf der kommunalen Ebene oder auf derjenigen der Räte beruht nicht auf Elite und Ausschluss, sondern auf dem Zusammenkommen der Leute, die vorhanden sind – im Dorf, in der Nachbarschaft oder in der Fabrik, mit all ihren Unterschieden, ihren Streitigkeiten, ihren Verrücktheiten, ihren Gemeinheiten, ihren Interessen und Anliegen. (…) In den gemeinsamen Diskussionen soll nicht die richtige Linie definiert, sondern es sollen Unterschiede artikuliert werden, um hier und jetzt gegenseitige Anerkennung zu erarbeiten. Es geht um einen ständigen Prozess der Diskussion und der Kritik, die nicht darauf abzielt, den Gegner zu eliminieren, anzuprangern oder mit einem Etikett zu versehen, sondern eine kreative Spannung aufrechtzuerhalten, die dadurch entsteht, dass man unterschiedliche Ideen miteinander konfrontiert.
Der Rat oder die Kommune ist eine selbstbestimmte Bewegung: Durch Fragen-Zuhören-Nachdenken werden wir entscheiden, wie wir die Welt haben wollen. (…) Es geht darum, dass wir dem Staat die Verantwortung für die Zukunft menschlichen Lebens entziehen. Wenn wir den Punkt der Auslöschung erreicht haben werden, wird es uns nichts nützen, am letzten Tag zu sagen: „Die Kapitalisten und ihre Staaten sind schuld.“ Nein, es wird unsere Schuld sein, wenn wir nicht die Macht des Geldes brechen und die Verantwortung für die Gestaltung unserer Zukunft übernehmen.
John Holloway, Rede zum 1. Mai 2021
Professor für Soziologie am «Instituto de Ciencias Sociales y Humanidades», Benemérita Universidad Autónoma de Puebla. Zu seinen Büchern gehören Change the World without Taking Power (Pluto Press, London, 2002, 2019) und Crack Capitalism (Pluto Press, London, 2010).
(1) „Tren Maya“ ist ein riesiges, in Entwicklung befindliches Eisenbahn- und Tourismusprojekt in Mexiko, das von vielen indigenen Gemeinden abgelehnt wird. (2) griechischer Sozial- und Politkwissenschaftler, Rapper in der Hip-Hop-Gruppe „Social Waste“ (3) Originalzitat in Englisch: (the state as) “the only game in town”.