Es ist jetzt schon fast ein Jahr her, dass Alba, Antonio und ich, alle drei aus Kolumbien, an der europäischen Kampagne «Saatgut und Widerstand» teilnahmen, um über die Situation der bäuerlichen Landwirtschaft und der Saatgutproduktion in unserem Land zu informieren. In einem eineinhalb Monate dauernden Marathon durchquerten wir Holland, Belgien, die Schweiz, Frankreich, Österreich und Deutschland.
Während dieser Tournee entdeckten wir Gemeinsamkeiten bezüglich der Einführung von Normen und Gesetzen, die das Ende der bäuerlichen Landwirtschaft herbeiführen, Natur und Biodiversität zerstören und die Kontrolle über Ernährung und Leben einigen multinationalen Unternehmen überlassen. Wir stellten fest, wie sehr die europäische Bevölkerung bereits von einer mit der Natur und dem Land verbundenen Lebensweise abgeschnitten ist, und sahen die Folgen sowohl auf sozialer und kultureller Ebene, als auch für die Umwelt. Wir erkannten, dass uns in Kolumbien auf beschleunigtem Weg und mit verschiedenen Mitteln (Gesetze, Wirtschaft, Gewalt) die gleiche Entwicklung aufgezwungen wird. Doch wir wissen auch, dass in Kolumbien noch eine starke ländliche Tradition besteht, mit reicher Biodiversität und vielen natürlichen Ressourcen, die es zu verteidigen gilt. In allen Ländern, die wir durchreisten, lernten wir auch Orte des Widerstands kennen, Menschen und Gruppen, die sich dieser Entwicklung entgegenstellen; in den Städten wie auf dem Land. Viele mobilisieren sich und arbeiten mit Willenskraft und Kreativität dafür, aktuelle Alternativen zu verteidigen und neue zu konstruieren. Wir sind auf viel freundschaftliche Unterstützung und Solidarität gestossen, die in den meisten Fällen weiter Bestand hat: Information über die Situation in Kolumbien in verschieden Medien (Konferenzen, Videos, Artikel etc.), Besuche auf unseren Geländen in Kolumbien, um unsere Art zu leben und zu arbeiten kennen zu lernen, Partnerschaften mit unserem Netzwerk und mit unserem bäuerlichen Saatgut, Vorschläge für gemeinsame Arbeit.
Und wie sieht es nach einem Jahr aus? Wie steht es mit den Forderungen der indigenen Bauern an die Freihandelsabkommen (FHA)? Wie um die Mobilisierung für verschiedene soziale Bereiche? Wie um die berühmte «Einfrierung» der Resolution 9.70? Wie um das Projekt einer neuen Resolution? Wie um die Beschlag-nahmung von Saatgut bei den Bauern?
Grundlage für den Artikel sind meine Notizen bei dem Vortrag «Für den Aufbau autonomer Landwirtschafts- und Ernährungssysteme – für den Widerstand» von Professor Luis Alfred Londoño Vélez, den er anlässlich eines Treffens der RGSV im November 2014 hielt.
Der «Neo-Extraktionismus»
In Kolumbien sind wir von einem Systems des Abbaus oder der Extraktion der Bodenschätze zu einem Modell des «Neo-Extraktionismus» gekommen. Die Bezeichnung «Extraktionismus» bezeichnet den Abbau und Export sämtlicher natürlicher Ressourcen, ohne etwas im Land zurückzulassen.
Die Gewinnung von Erdöl und Kohle in den 1950er-Jahren stand am Beginn der Entwicklung des Systems des Extraktionismus. Durch den Kohleabbau in Cerrejón, in der Region Guajira, sowie durch die Erdölförderung in vielen Gebieten Kolumbiens wurde die Umwelt zerstört, genauso wie das soziale Gefüge und die Lebensgrundlage der damals bäuerlichen Gesellschaft. Die Menschen wurden abhängig von den neuen Arbeitsplätzen, die keine langfristigen Perspektiven boten. Nach dreissig Jahren Erdölförderung in der Region Putumayo konnte man eine brutale Verschlechterung der Lebensqualität der Bevölkerung feststellen, ganz im Widerspruch zum politischen Diskurs von Wirtschaftswachstum und Wohlstand. Zurzeit hat Kolumbien viele Gebiete zum Abbau von Gold und anderen wirtschaftlich wertvollen Metallen freigegeben – vor allem an kanadische Firmen – mit verheerenden Folgen für Grundwasser und Boden durch die Ansammlung von biologisch nicht abbaubaren Schwermetallen.
Neben dem Abbau der Bodenschätze entwickelt der Neo-Extraktionismus nun weitere Aktivitäten im Bereich der Energiegewinnung, die als moderne und «grüne» Wirtschaft präsentiert werden.
In der Landwirtschaft muss die Produktion von Lebensmitteln nach und nach der Produktion von Energie-Rohstoff weichen. Dies verschärft das Problem der Bodenkonzentration. Zwischen 2002 und 2010 wurden nach offiziellen Zahlen mehr als vier Millionen Personen umgesiedelt, und mehr als acht Millionen Hektar Land für den Anbau von pflanzlichem Energierohstoff enteignet1, vor allem für den Anbau afrikanischer Palmen. Die Flächen, auf denen Zuckerrohr, Mais, Soja, Yucca oder Zuckerrüben für die Produktion von Motorentreibstoff angebaut werden, nehmen ebenfalls stark zu.
Gleichzeitig wird die Produktion von «ökologischer Kohle» (Biochar) in den Wäldern als ein nachhaltiger Weg der Energiegewinnung angepriesen. Die Regierung wirbt für den Bau grosser Wind- und Sonnenenergieparks als zukunftsweisende Möglichkeiten, der Umweltzerstörung entgegenzutreten. Diese Energieproduktion soll der Entwicklung der Exportindustrie und der Weltwirtschaft dienen und wird als mögliche Quelle für zukünftigen Reichtum dargestellt. Es wird allerdings weder präzisiert, wer die Nutzniesser dieses neuen Reichtums sein werden, noch werden die durch die Zerstörung der vorherigen Systeme und Energiequellen, der alten Wälder und der bäuerlichen Produktion aufkommenden Kosten für die Umwelt, das soziale Leben und die lokale Wirtschaft, analysiert.
Eine zweite Facette des Neo-Extraktionismus sind die Serviceleistungen im Bereich des Umweltschutzes, da Kolumbien noch immer eines der Länder ist, die gewisse, den reichen Ländern nützliche Funktionen erfüllen können:
- Aufnahme von CO2-Emissionen: Nach dem Protokoll von Kyoto können die Industrieländer, die zu hohe CO2-Emissionswerte haben, den weniger industrialisierten Ländern Emissionsrechte abkaufen. Diese Länder verpflichten sich dann dazu, nach den «Mechanismen sauberer Entwicklung» Wälder in Form von Monokulturen zu pflanzen. Sie können sich auch für den «Mechanismus der Verhinderung von Abholzungen» entscheiden, das bedeutet, alte Wälder zu isolieren, um ihre Zerstörung zu verhindern. Eine internationale Behörde überwacht diese Wälder, die lokale Bevölkerung jedoch, die bis dahin mit und von dem Wald gelebt hat, wird ausgeschlossen.
- Wasserreserven: Für die Produktion von «grüner Energie», sowie für die gross angelegte Futtermittelproduktion für die industrielle Massentierhaltung ist viel Wasser notwendig. Zahlreiche Gemeinde-Aquadukte sind bedroht durch Privatisierung und Verkauf der Quellgebiete an ausländische Firmen.
- Bioprospektion: es handelt sich hier um Subventionsprogramme für kolumbianische und ausländische Forschungsinstitute, um die Genetik der Tier- und Pflanzenwelt sowie das chemische und mineralische Potential in dieser Region zu erforschen, die von ökonomischem Wert sein könnten. Kolumbien ist ein bezüglich Biodiversität privilegiertes Land, denn es liegt in den tropischen Anden mit verschiedenen Klimazonen je nach Höhe der drei Gebirgsketten. Diese Bioprospektion wird natürlich streng kontrolliert von geprüften Wissenschaft-ler_innen durchgeführt – sie soll ja den Auftraggebern zu Nutze kommen, und nicht der ansässigen Bevölkerung, die schon seit Jahrhunderten viele wertvolle Kenntnisse überliefert und anwendet.
- Regionen, in welchen die Menschen früher von Landwirtschaft lebten, sollen, sofern sie nicht bereits zerstört sind, dem Tourismus dienen und werden zu künstlichen ländlichen Gebieten. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Privatisierung der Sierra Nevada von Santa Marta. Die einheimischen Koguis, Arhuacos, Kancuamos und Jiguas sind nur noch zu Dekorationszwecken anwesend, während auf ihren heiligen Stätten Touristen in seelenlosen Hotels wohnen, ohne Kenntnisse über die jahrtausende alte Kultur der einheimischen Völker, die auf diesem Weg zu zerstört wird.
Die dritte Facette des Neo-Extraktionismus besteht im massiven und grossflächigen Anbau von Kulturpflanzen für Export und Nahrungsmittelindustrie, auf Kosten der Umwelt sowie der Ernährungssicherheit und -autonomie der kolumbianischen Bevölkerung. Was hier wirtschaftlich rentabel für die reichen Länder produziert wird, nennt Professor Luis A. Londoño «Dessert-Pflanzen»: keine Grundnahrungsmittel, sondern exotische und leicht ersetzbare Produkte: Kaffee, Blumen, Bananen, Passionsfrucht, Mango, etc.
Andere massiv angebaute landwirtschaftliche Exportprodukte sind nicht für die Nahrungsmittelindustrie, sondern für die Agrarindustrie bestimmt: Yucca soll Erdöl ersetzen, Mais ersetzt Plastik für die Produktion von Verpackungsmaterial, Soja und (vor allem transgenetischer) Mais dienen der Produktion von Nahrungsmittelkonzentraten. In der Viehzucht kommt es zu immer höherer Konzentration, mehr Tiere auf engerem Raum, Sanitätsvorschriften nach internationalen Normen und Kontrollen. Dies schadet den Bauern, die den Kriterien nicht entsprechen können und ihre Produkte nicht mehr am nationalen, geschweige denn am internationalen Markt verkaufen dürfen.
Das Spiel des freien Marktes
So wie überall in der Welt setzen sich auch in Kolumbien nach und nach die grossen Käufer und Verkäufer durch. Dies sind gesichtslose multinationale Gesellschaften ohne identifizierbaren Eigentümer, die den Gesetzen des internationalen Marktes gehorchen, jedoch niemandem in keinem Land Rechenschaft ablegen müssen. Von nun an sind sie es, die den Markt kontrollieren. Zu Beginn waren die für die intensive Landwirtschaft bestimmten Giftstoffe ihre Domäne, mittlerweile kontrollieren sie auch die phythosanitären Produkte, die für die biologische Landwirtschaft bestimmt sind; der biologische Dünger Patentkali2 beispielsweise wird in den landwirtschaftlichen Geschäften in den Dörfern Kolumbiens verkauft. Gleichzeitig kontrollieren diese multinationalen Firmen die Nahrungsmittelkette vom Einkauf beim Produzenten bis zum Verkauf des Endprodukts. Die Landwirtschaft wird mit extensiven Monokulturen industrialisiert, um den Einkaufspreis für landwirtschaftliche Produkte zu senken. Der Bauer ist dabei der Verlierer. Anschliessend werden die Produkte industriell verarbeitet, mit chemischen Mitteln konserviert und im Supermarkt mit einem weit geringeren Nährwert verkauft. Dieses Phänomen erreicht mittlerweile sogar die kleinen Gemischtwarenläden in den Dörfern, wo bis vor kurzem ausschliesslich die Produkte der Bauern der Region verkauft wurden. In den abgelegendsten Orten entstehen plötzlich Supermärkte und es wird Fast-Food verkauft. Wir beobachten, wie sich «Starbuck’s Café» in unserem Land vordrängt; die Menschen stehen dort Schlange, um ihren Kaffee acht mal so teuer zu bezahlen wie bei Dona Maria um’s Eck. Und wenn wir krank werden, verkauft man uns Medikamente, um nach und nach die in Kolumbien noch sehr verankerte traditionelle Medizin zu verdrängen. Und schliesslich verkauft man uns die Dienstleistungen und die technischen Unterlagen, um in diesem System zu überleben: Kredite, Transporte, technische Assistenz, Zertifizierungen (Bio-Labels), etc.
Einzig das erste Glied der Kette ist noch nicht unterworfen: das Saatgut. Das Gesetz 9.703 ist vorläufig immer noch eingefroren.
Die Freihandelsabkommen (FHA) sind der konkrete Ausdruck eines neuen, noch schonungsloseren Wirtschaftsmodells. Experten, die für die FHA arbeiten, haben die Sieger und die Verlierer bereits vorbestimmt. Die Ersteren springen auf den fahrenden Zug auf. Die anderen, die Langsamen, werden ausgeschlossen. Die Mehrheit der Kolumbianer – den Wettlauf nie gelernt – haben von vornherein verloren. Die Experten haben es angekündigt: «Aus den FHA ist die Konfrontation entstanden zwischen einheimischen Bauern ohne Kapitalgrundlagen und ohne Ausweg und einer Lawine von subventionierten Überschüssen aus Landwirtschaft und Fischerei. Die Lawine hat gewonnen.»4. Das Resultat dieser Entwicklung wird niemanden erstaunen: die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer – und verlieren manchmal alles. 65% der Kolumbianer lebten 2013 unter der Armutsgrenze, 33% gelten als bedürftig.5 Der letzte Entwicklungsbericht des UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) von 2011 zeigt das 1,15% der Landeigentümer 52% des Bodens, bzw. 70% der kultivierbaren Flächen besitzen6. Die Konzentration der landwirtschaftlichen Flächen, die steigende Armut, die Verschlechterung der Lebensbedingungen, und der Lebensqualität bezüglich Schulbildung, Gesundheitswesen und Wohnverhältnisse, nehmen überhand.
Viele gehen unter und schweigen. Andere organisieren sich in Sozialbewegungen. 2013 war das Jahr der Proteste. 2014 war das Jahr der Verhandlungen mit einer Regierung, die noch immer im Dienste der Multinationalen zu stehen scheint. 2015 dürfte das Jahr der Mobilisierungen sein. Wer wird gewinnen?
*Umweltwirtschaftswissenschaftlerin,
Koordinatorin von Nodo Cauca – Red de Guardianes de Semillas de Vida (Netzwerk der Hüter_innen vom Saatgut des Lebens)
oscinta(a)yahoo.es
www.colombia.redsemillas.org.
- Colombia y el TLC. Entre la movilization y el Conflicto, Lydia Forero y Danielo Urrea. Transnational Institute. CENSAT/Agua Viva-FOE Colombia. 2013.
- von K+S, zweitgrösster Europäischer Düngemittelproduzent, weltweitführender Salzanbieter.
- Siehe Kolumbien, Widerstand gegen die Landwirtschaftspolitik von Cynthia Osorio, Archipel Nr. 222, Jan. 2014.
- El TLC, una tragedia anunciada, Daniel Samper Pizano, Periodico El Tiempo. 7. September 2013.
- Departamento Nacional de Planeacion, 2013.
- Siehe Kolumbien, kein Friede, bevor das Landproblem nicht gelöst ist von Olga Gayon, Archipel Nr. 219, Okt. 2013.