In den letzten Wochen haben sich Hunderte von Menschen und Institutionen in Frankreich, der Schweiz und anderen europäischen Ländern mobilisiert, um ihre Unterstützung für die türkische Soziologin, Schriftstellerin und Aktivistin Pinar Selek, die in Frankreich im Exil lebt, auf vielfältige Weise auszudrücken – ausgelöst durch ein skandalöses Urteil des Obersten Gerichtshofes der Türkei.
Am 6. März 2023 änderte der Campus des Nationalen Hochschulinstituts für Lehrkräfte und Bildungsinstitut der Universität von Nizza seinen Namen in «Campus Pinar Selek». Dem vorausgegangen war eine Postkartenkampagne der Studierenden, die, um ihre Professorin zu unterstützen, Protestpostkarten angefertigt und diese an die türkische Botschaft geschickt hatten. Die «solidarischen Buchhandlungen» in Frankreich haben mit einem gemeinsamen Pressekommuniqué auf die Situation Pinars Seleks aufmerksam gemacht. Die ehemalige Bürgermeisterin von Marseille, Michèle Rubirola, hat Pinar Selek am 10. März öffentlich empfangen und ihr die Unterstützung der Stadt Marseille sowie ihre Teilnahme als Vertreterin Marseilles an dem Prozess gegen Selek in Istanbul zugesichert. Etwa 100 Prominente, Politiker·innen, Akademiker·innen, Anwältinnen und Anwälte sowie Aktivist·innen und Vertreter·innen von Menschenrechtsorganisationen aus ganz Europa und der Schweiz reisten für den 31. März 2023 in die Türkei, um Pinar Selek in dem Prozess zu unterstützen, der ihr seit über zwei Jahrzehnten gemacht wird. Im Auftrag von mehr als 20 lokalen Unterstützungskollektiven, Verbänden, Parteien, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen nahmen diese Menschen an der internationalen Delegation zur Prozessbeobachtung teil.
International gesucht
Dabei geht es um eine neue Anhörung im Prozess gegen Pinar Selek, der im Jahr 1998 gegen sie eingeleitet wurde, als sie sich weigerte, die Namen der Kurdinnen und Kurden zu nennen, die sie für ihre soziologische Forschung interviewt hatte. Der damalige Vorwand, um sie zu verhaften: Sie hätte ein Bombenattentat auf den Gewürzmarkt von Istanbul verübt. Nach zweieinhalb Jahren Haft, vier Freisprüchen und einem 25 Jahre dauernden Verfahren kam es am Anfang dieses Jahres, am 6. Januar 2023, zu einem neuen Urteil. Das Istanbuler Schwurgericht teilte die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs mit: Pinar Selek droht wegen dem bereits oben erwähnten, angeblichen Bombenattentat erneut lebenslange Haft. Vorläufig wurde ein internationaler Haftbefehl gegen sie erlassen und eine erneute Anhörung vordem Strafgericht in Istanbul am 31. März 2023 vereinbart. Selbstverständlich kann sie selber bei dieser Anhörung nicht anwesend sein; mit einer Reise in ihr Heimatland würde sie ihr Leben riskieren. Sie hat jedoch einige ausgezeichnete Anwältinnen und Anwälte, die sich seit 25 Jahren für einen Freispruch engagieren.
Ziel der Beobachtungsdelegation ist es, die internationale Wachsamkeit und die Forderung nach Gerechtigkeit und Wahrheit für Pinar Selek zum Ausdruck zu bringen. Die Delegationsmitglieder, darunter auch zwei Delegierte vom Europäischen BürgerInnen Forum, werden direkt hören können, was der Gerichtshof sagt. Seit Beginn dieses Prozesses hat ein Gutachten nach dem anderen den Unfallcharakter der Explosion auf dem Gewürzmarkt nachgewiesen und Pinar Selek wurde in allen bisherigen Anhörungen und bei allen vorangegangenen Gerichtsverfahren freigesprochen. Die einzige Wahrheit ist also: Pinar Selek ist unschuldig. Sie muss endgültig freigesprochen werden. Ihr Kampf für Gerechtigkeit betrifft nicht nur sie selbst, sondern auch alle anderen Menschen, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen. Im Moment hoffen wir, dass die grosse internationale Präsenz und Solidarität die ach so unparteiische und unabhängige türkische Justiz beeindruckt und Pinar endlich definitiv freigesprochen wird.
Constanze Warta
Letzte Meldung aus Istanbul
Sorge, aber auch Hoffnung nach der Anhörung am 31. März in Istanbul. Hier ein Auszug von der Medienmitteilung der Koordination der Solidaritätskollektive mit Pinar Selek vom selben Tag:
Bei der Anhörung am 31. März 2023 entschied die 15. Kammer des Schwurgerichts in Istanbul, dass die Verhandlung auf den 29. September 2023 vertagt wird. Leider bestätigte es den Haftbefehl gegen Pinar Selek. (…) Ihr droht weiterhin eine lebenslange Haftstrafe. (…) Die Koordination der Solidaritätskollektive mit Pinar Selek prangert die Einschüchterung durch eine unverhältnismässige Polizeipräsenz an, welche die internationale Delegation schwer bedrängte und die Durchführung einer Pressekonferenz verhinderte. Dies bedeutet jedoch die Anerkennung unserer Stärke und das Eingeständnis ihrer Schwäche.
Die Koordination, die durch die Teilnahme von zahlreichen gewählten Volksvertreter·inne·n·verstärkt war, fordert die französische Regierung auf, öffentlich ihre volle Unterstützung für Pinar Selek kund zu tun und bekannt zu geben, dass sie deren Auslieferung verweigert und sich verpflichtet, ihren Schutz zu gewährleisten. Sie bekräftigt gegenüber dem Präsidenten der Republik ihre Bitte, bei den türkischen Behörden zu intervenieren. (…) Sie fordert Frankreich auf, sich mit den europäischen Ländern zu koordinieren, um die Anwendung des internationalen Haftbefehls zu unterbinden und so die Bewegungsfreiheit von Pinar Selek zu ermöglichen. (…) Wir werden nicht lockerlassen. Wir wissen, dass die Wahrheit am Ende siegen wird.