Seit dem 7. Februar 2019 wird in Turin gestreikt: «STOP mit dem Krieg gegen die Armen, die Stadt muss menschengerecht für alle gestaltet werden!». Seit der Räumung des besetzten und selbstverwalteten Sozialzentrums «ASILO» werden jeden Tag öffentliche Treffen auf der Strasse organisiert: Volksküchen, Strassentheatervorstellungen, Diskussionen und neue Besetzungen.
Der ehemalige Kindergarten war seit 1995 besetzt. Hinter seinen Mauern wurden soziale Kämpfe geführt, in den letzten Jahren vor allem gegen die Gentrifizierung der Stadt und in Solidarität mit den Migrant·inn·en. Im Haus gab es eine Bibliothek, eine solidarische Küche, eine Sporthalle, Räume für Theater, Konzerte und Diskussionen, eine Werkstatt, ein Umsonstladen und ein unabhängiges Radio. Der Vorwand für die Räumung war das Engagement der Besetzer·innen gegen die Abschiebezentren C.P.R.1 Der besetzte Ort wurde geräumt und unbewohnbar gemacht, sechs Menschen wurden wegen der «Bildung einer subversiven Vereinigung» (ex. Art. 270) und «Anstiftung zu Verbrechen» verhaftet. Bei der Räumung wurden massive Repressionsmassnahmen eingesetzt: die Polizei, die Carabinieri, die Guardia di finanza, die Feuerwehr, die Stadtpolizei, ROS2 und DIGOS3 haben den Ort während über 36 Stunden geräumt. Die Durchführung wurde von Bürgermeisterin Chiara Appendino (5-Sterne-Bewegung), dem Polizeidirektor von Turin, Francesco Messina, und dem Chef der DIGOS, Carlo Ambra, unter der höchstpersönlichen Führung von Innenminister Matteo Salvini koordiniert. Mit ihren Gesetzen hat die neue Regierung den Armen und den Ausländer·inne·n den Krieg erklärt. Der Räumung in Turin gingen repressive Operationen in ganz Italien voraus.
Starker Protest Trotz der Repression ist die Beteiligung an den Protesten erstaunlich hoch. Viele neue Gesichter unterstützen die Hausbesetzer·innen von Turin, die den gewaltsamen und ständigen Krieg gegen die Armen denunzieren und bekämpfen. In einer Stadt, wo Gentrifizierung, Requalifizierung, Spekulation und die zwingend damit einhergehende demographische Umverteilung Alltag geworden sind, können die Nachteile dieser «Entwicklung» nicht mehr ausgeblendet werden: ein grosses Wohnprojekt von Geflüchteten wurde geräumt, einige leerstehende Häuser wurden an das italienische Kaffeeunternehmen Lavazza verscherbelt und der alte Flohmarkt Balon soll aus der Innenstadt verschwinden. Gleichzeitig wird von der Stadt eine «Biennale della Democrazia» («Biennale der Demokratie») organisiert, wo vereinfachte und institutionalisierte Lösungen der Weltprobleme angeboten werden. Unter solchen Bedingungen stehen viele Bürger·innen auf und schreien laut: «Nein!»
Die Stadt blockieren Für den 30. März wurde zu einem internationalen Protestmarsch aufgerufen. Für einen Tag die Stadt zu blockieren, war das Ziel der Kundgebung. Die Woche davor wurde eine alte Schule besetzt, in der die Blockade organisiert werden konnte. Nach und nach reisten viele Mitstreiter·innen, aber auch Polizeikräfte, in Turin an. Die Stimmung in der Stadt war angespannt: jedes Organisationsplenum wurde von gepanzerten Polizist·inn·en und DIGOS beobachtet; am Donnerstag wurde eine friedliche Menschenmenge von der Polizei angegriffen. Am Freitag war ein Spaziergang im «Aurora»-Viertel angesagt. Um 18.30 Uhr startete die Demonstration vom Sitz des unabhängigen Radios «Blackout» von Turin und zog für einige Stunden mit Redebeiträgen und lauten Sprüchen durch das Viertel. Die Polizei hatte die Strassen im «Asilo»-Viertel gesperrt und die Demo umgeleitet. Der Spaziergang verlief jedoch friedlich und einige Bewohner·innen der Nachbarschaft gingen mit. Am Samstag starteten dann vier Gruppen den Protestmarsch von unterschiedlichen Orten aus. Es gab die Student·inn·engruppe, die Arbeiter·innengruppe, die Internationale Gruppe und die Stadtgruppe. Der Treffpunkt für alle Teilnehmenden war um 15 Uhr auf dem Carlo-Felice-Platz. Als der Protestmarsch mit zweitausend Menschen startete, fehlte nur noch die Gruppe, die von der besetzten Schule hätte kommen sollen: Rund 200 Aktivist·in-n·en wurden kurz nach 13 Uhr von Polizei und DIGOS auf einer Seitenstrasse für mehr als sechs Stunden blockiert. Die Anzahl an Repressionskräften war enorm: zweitausend Polizist·inn·en, Hubschrauber und Wasserwerfer. Drei Stadtteile (Aurora, Barriera di Milano und San Salvario) wurden militarisiert und alle Brücken über den Dora-Fluss blockiert. Mehrere S-Bahn-Linien fielen aus, einige Restaurants und Bars öffneten gar nicht erst und in einigen Vierteln wurden sogar sämtliche Mülltonnen von der Polizei entfernt. Erst am Abend durften die zweihundert blockierten Demonstrant·inn·en zur besetzten Schule zurückkehren.
Zukunft Aus der Mobilisierung sind eine Arbeiter·innen- und eine Stadtgruppe entstanden, die sich weiterhin gegenseitig stärken und miteinander organisieren. Ziel ist es, den Bewohner·inne·n von Turin ihre Lebensorte wiederzugeben: neue freie Räume, wo Menschen sich entfalten und Freiheitsblumen wachsen können. Im Gegensatz dazu führen mit Gewalt geschlossene Räume zu Vandalismus, Zerstörung und Zerfall. Durch die Mobilisierung sind neue Wege zur Stadtbefreiung entstanden, die einen breiteren Teil der Bevölkerung ansprechen können. Der Kampf um ein besseres Leben geht weiter! Wir laden euch alle ein, nach Turin zu kommen, um uns zu unterstützen!
Marta Cavalini Turin, 2. April 2019
- Sogenannte «Aufenthaltszentren für die Rückführung von Geflüchteten«, ehemals C.I.E. – Identifikations- und Abschiebungszentren.
- Raggruppamento Operativo Speciale oder kurz ROS ist eine Polizeieinheit der italienischen Carabinieri. Sie ist zuständig für Ermittlungen im Bereich der organisierten Kriminalität.
- Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali: Abteilung für allgemeine Ermittlungen und Sonderoperationen ist ein auf Terror- und Extremismusbekämpfung spezialisierter Organisationszweig der italienischen Staatspolizei.