Nachdem papierlose Ausländer·innen zuerst in der französischsprachigen Schweiz aus dem Schatten getreten waren(1), folgten Bern und Basel in der deutschen Schweiz. Am 21. Oktober 2001 besetzten Sans-Papiers gemeinsam mit Aktivist·inn·en mit Papieren die Kirche St. Anton in Basel.
Danach folgten weitere Initiativen auch in anderen Schweizer Städten, so dass nicht mehr totgeschwiegen werden konnte, dass Tausende von Menschen in der Schweiz leben und arbeiten, obwohl sie ihren Aufenthaltsstatus entweder verloren oder einen solchen nie bekommen haben. Diese Menschen verrichten zum grossen Teil die Arbeiten, welche kein Schweizer und keine Schweizerin mehr machen würde, und sind oft Opfer von Ausbeutung.
Komi Aimé Ofounou aus Togo, der damals im Kirchenasyl von St. Anton war, erzählt: „Zu Beginn waren wir 15 bis 20 Sans-Papiers in der Kirche. Aus Kosovo, aus Chile und Bolivien, aus Syrien, aus der Türkei und aus Kurdistan. Später kamen weitere dazu. Es gab verschiedene Wellen, denn es wurde langsam bekannt, was wir machten. Einige sind aber bald wieder gegangen, weil sie keine schnellen Resultate sahen. Auch viele Einheimische lebten mit uns zusammen zu unserem Schutz. Es gab auch viele Ältere, die tagsüber aus Solidarität bei uns blieben.“
Auch der aus Bulgarien stammende XY (der nicht namentlich genannt werden möchte), der als Landarbeiter angestellt war, spricht über diese Zeit: „Das Wichtigste für mich war zu erfahren, dass ich nicht alleine bin. Es gab so viele Leute in der gleichen, illegalen Situation. Zusammen konnten wir überlegen, wie wir vorgehen wollten, und fanden dabei viel Unterstützung. Ich erlebte diese grosse Solidarität auch ganz persönlich. Eine sehr nette Frau kaufte für mich Medikamente. Denn obwohl ich einen Leistenbruch hatte, arbeitete ich jahrelang bei einem Bauern und durfte keinen Arzt aufsuchen. So oft ich konnte, kam ich nach Basel in die Antoniuskirche und an die Demonstrationen. Ich fühlte mich gut in dieser freundschaftlichen Atmosphäre.“
Unvergessliche Momente
Jaqueline Estrada aus Ecuador war eine der ersten Sans-Papiers, die aus dem Schatten getreten war und an den Sitzungen der Basler Aktivist·inn·en teilnahm, wo gemeinsame Aktionen geplant wurden. Danach folgte ihr Mann Julio. Daraufhin zogen sie gemeinsam mit ihren vier Kindern in die Kirche ein. Die Töchter Liliana und Cristina berichten: „Eines Tages brachte uns eine Frau Spielsachen. Ich war erstaunt, dass fremde Menschen so gutherzig sein können und etwas mit anderen teilen, die sie gar nicht kennen. Dieses kleine Erlebnis hat mich für mein ganzes Leben geprägt: Alle Menschen haben eine gute Seite. Auch in den Versammlungen, die regelmässig stattfanden und denen wir von weitem zuhörten, habe ich das gespürt. Wir hatten von klein auf gelernt, misstrauisch zu sein und haben zum Glück durch diese Solidarität wieder Vertrauen gefasst.“
Auch für viele der Schweizer Unterstützer·innen ist das Kirchenasyl in Basel unvergesslich. Daisy Reck ist stellvertretend dafür: „Mir, die ich in jener Zeit um meinen verstorbenen Mann trauerte und nach einem neuen Lebensinhalt suchte, verhalf die Begegnung mit den Sans-Papiers zu einem grossen Geschenk: Ein Mitglied der Gruppe gewann mein Vertrauen, ich konnte in Kontakt zu seiner zu Hause zurückgebliebenen Familie treten, ich konnte sie in die Schweiz holen helfen, ich konnte ihr die Annäherung zu unserem Land erleichtern und ich konnte ihr schliesslich zu unserem Bürgerrecht verhelfen. Heute bin ich ein selbstverständlicher Teil dieser Familie und habe damit ein im Alter wichtiges Gefühl der Geborgenheit erworben.“ Noch einem monatelangen, nervenaufreibendem Hin- und Her mit den Behörden konnten nach und nach alle Sans-Papiers, die im Kirchenasyl in Basel für ihre Rechte gekämpft hatten, legalisiert werden. Doch leider sind wir auch nach 20 Jahren noch weit von einer kollektiven Regularisierung der Sans-Papiers in der Schweiz entfernt. Es gibt noch viel zu tun!
Doch immerhin sind aus dem Kirchenasyl von St. Anton viele neue Beziehungen und Netzwerke entstanden, darunter die Anlaufstelle für Sans-Papiers in Basel und die Union der Arbeiter·innen ohne geregelten Aufenthalt.
Michael Rössler, Freundeskreis Familie Estrada
Quelle: „Stimme der Sans-Papiers“ zum 20-jährigen Jubiläum der Kirchenbesetzung in Basel, Nr. 53, Mai 2021. Zu bestellen bei: Anlaufstelle für Sans-Papiers Basel, Gewerkschaftshaus, Rebgasse 1, CH-4058 Basel, basel@sans-papiers.ch, Tel. ++41 61 681 56 10. Die „Stimme der Sans-Papiers“ finden Sie auch unter: www.sans-papiers.ch.
- Ab April 2001: Kirchenasyl von Bellevaux in Lausanne, ab Juni 2001: St-Paul in Fribourg,