Wir, Dominik und Irina von der Hofgemeinschaft Hart 7 in Kärnten, Österreich, hatten die Idee, im Januar und Februar 2023 nach Südspanien zu reisen, um Tomaten, die sonst weggeschmissen werden, zu Sugo zu verarbeiten und parallel dazu die Hintergründe der Agroindustrie zu verstehen und ins Bewusstsein der Nordeuropäer·innen zu bringen.
Die Öffentlichkeitsarbeit von «Free Sugo», so haben wir unser Projekt genannt, realisieren wir unter anderem mit Social Media und einem Dokumentarfilmprojekt. Wir haben semiprofessionelles Equipement dabei, genug Gigabyte für Instagram, eine Drohne, eine GoPro und viele leere Schraubgläser. Bis jetzt, Mitte Februar, haben wir 191 Gläser gefüllt, die wir stets verschenken. Viele davon werden voll zurück nach Österreich kommen und werden dort verschenkt an solidarische, liebe Menschen.
Nun sind wir schon seit einem Monat in der Region Nijar im Plastikmeer von Almeria und wir merken langsam, dass wir wahrscheinlich ein Jahr hier verbringen müssten, um alle Ebenen zu verstehen, auf denen sich die Problematiken abspielen und kreuzen. Migrationsrouten, kapitalistische Globalisierung und Umweltzerstörung spielen zusammen und das Resultat ist eine riesige Gegend voller Plastik, auf den Gewächshäusern sowie in den Flussbetten, eine Gegend, die mehr und mehr austrocknet und wo die Brunnen für die Bewässerung schon so tief gegraben sind, dass das Wasser zu salzig ist zum Giessen. Eine Gegend, in der Ziegen und Kühe mit übriggebliebenem Gemüse gefüttert werden, wo in Hinterhöfen Senegales·inn·en und marokkanische Familien hausen, weil ihnen nur ausbeuterische Arbeit aber kein ordentlicher Wohnraum angeboten wird. Eine Gegend, in der die Kleinbäuerinnen und -bauern trotzdem froh sind, davon mehr oder weniger Leben zu können und irgendwie auch sehr stolz auf ihr Land sind. Sie sind froh über die guten klimatischen Bedingungen, die ihnen ermöglichen, Tomaten für 65 Cent das Kilo nach ganz Europa zu verkaufen. Was unserer Ansicht nach überhaupt kein fairer Preis ist, angesichts der Tatsache, dass wir in Österreich ein Kilo Tomaten zu dieser Jahreszeit um etwa 5€ im Supermarkt kaufen können.
Räumungen
Wie im Archipel immer wieder berichtet, setzt sich die Gewerkschaft SOC-SAT mit verschiedenen Mitteln für die Arbeiter·innen in den Gewächshäusern ein. Zuletzt wurden über die Plattform «Derecho a techo» mehrere Demonstrationen organisiert. Das Vorhaben der Gemeinde, einen Slum zu räumen, in dem bis zu 500 Migrant·inn·en lebten, wird aufs Schärfste kritisiert. Am 22.1. waren wir bei einer Demonstration dabei, wo uns Yusuf (Name geändert) aus Ghana erzählte, dass seine ganz einfache zeltartige Baracke in Walili, dem grössten Slum der Gegend, demnächst geräumt werden soll, die lokale Regierung aber keine Alternative bietet. Immer wieder ruft er fragend «We should go, but to where? To where?» (Wir müssen gehen, aber wohin, wohin?)
Eine Woche später waren wir tatsächlich Zeug·inn·en der Räumung. Um 7:00 in der Früh rückt die Polizei an; noch in Dunkelheit werden die Menschen aus ihren Hütten gescheucht, die sie teilweise seit Jahren bewohnten. Der Bagger ist auch schon mit vor Ort. Während die Polizei die Menschen davon abzuhalten versucht, noch mehr Sachen aus den Baracken zu retten, fängt der Bagger schon an, die ersten Hütten dem Erdboden gleichzumachen. NGOs und Medien sind vertreten. Es gibt zu dem Zeitpunkt weder eine organisierte Abholung zu Notunterkünften noch einen Infostand, nicht einmal einen Tee. Wir sprechen mit Ahmed aus Marokko und fragen ihn, wo er jetzt hingeht. Er meint, er hat sich schon vorbereitet und zieht mit seinen Neffen in die andere selbstorganisierte Siedlung bei Atochares. Er bittet uns, ihn mit seinen restlichen Sachen hinzubringen. Das machen wir und werden sogar zu frischgebackenem Brot der Nachbarin, Olivenöl und Schwarztee eingeladen. Was für ein verrückter Vormittag. Das Verrückteste an der ganzen Geschichte ist aber, dass viele dieser Menschen, die hier schikaniert werden, in den Gemüseplantagen arbeiten – zu Bedingungen, die kein·e Spanier·in akzeptieren würde. Die Agroindustrie ist abhängig von diesen Billiglohnarbeiter·inne·n, genauso wie die ganze Gemeinde und Region, die somit auch dafür zuständig sein sollte, leistbare Wohnräume für die Arbeiter·innen zu schaffen. Auch wenn wir die Situation nicht ganzheitlich überblicken, kommt es uns vor, als würden sich die Behörden und auch Arbeitgeber·innen auf der Gewissheit ausruhen, dass immer genug Menschen aus dem nicht-europäischen Süden nachkommen, die bereit sind, ohne Vertrag für 5 € die Stunde sieben Tage die Woche zu arbeiten.
Absurdität der Tomatenzucht
Die intensive Anbaukultur von Gemüse unter Plastik für den hauptsächlich nordeuropäischen Markt geht auch dem Ökosystem an den Kragen. Die starke Trockenheit der Region Almeria ist auf den Klimawandel aber auch auf die Agroindustrie zurückzuführen. Die geschätzten 60.000 Hektar Gewächshäuser werden fast ganzjährig bewässert – mithilfe von Regenwassersammelbecken, durch Zuleitung von entsalztem Meerwasser, welches sehr teuer ist, oder aber durch Brunnenwasser. Die Brunnen werden dafür immer tiefer gesetzt, was oft illegal geschieht. Die Landwirtin Vanessa erzählte uns sogar, dass sie das Brunnenwasser nicht mehr unverdünnt nutzen kann, weil der Brunnen so tief ist, dass das Wasser schon salzhaltig ist. Die Umweltverschmutzung durch die Kunststoffe, die illegal entsorgt oder durch den Wind fortgetragen werden, und die Vergiftung der Böden durch Spritzmittel sind noch weitere gravierende Umwelteinflüsse.
Mit unserem kleinen Forschungs-, Bildungs-, und Lebensmittelrettungsprojekt «Free Sugo» beschäftigen wir uns in erster Linie mit Tomaten. Laut unseren Berechnungen1 verlassen etwa 140 LKWs ausschliesslich mit Tomaten täglich Spanien. Allein Österreich importiert so viele Tomaten im Jahr, dass eine Tomaten-LKW-Kolonne etwa 100 km lang wäre. Laut der landwirtschaftspolitischen Bildungsplattform «Land schafft Leben» hat sich der österreichische Tomatenkonsum in den letzten 25 Jahren verdoppelt. Die Tomate ist das Gemüse, welches am meisten gegessen wird. Bei aller Systemkritik kommen wir bei diesen Zahlen nicht umhin, das Konsumverhalten zu kritisieren. Allein aufgrund des Treibstoffverbrauchs sollten wir regionales und saisonales Gemüse bevorzugen. Winter-Lagergemüse wie z.B. diverse Rüben sind jedoch unverständlicherweise nicht sehr bekannt und beliebt. Erschreckenderweise steht es mit dem Konsum in Südspanien genauso. Anstatt die milden Winter für die eigene Ernährungssouveränität zu nützen, werden am Wochenmarkt Birnen und Äpfel von Fernab und Oliven aus Marokko angeboten, jedoch wenig Gemüse, das ohne Gewächshaus jetzt ideal gedeihen würde.
Aus meiner Sicht ist es total unnötig, dass auch nur ein LKW Tomaten nach Mitteleuropa bringt, wenn ich jedoch den lokalen Lanwirt·inn·en gegenüber etwas in dieser Art erwähne, sind sie natürlich vor den Kopf gestossen. Die bis vor einigen Jahrzehnten strukturarme Region Spaniens kann sich wirtschaftlich durch diese Produktion relativ gut über Wasser halten. Der Gemüsehändler Javi erwidert mir zum Beispiel: «Aber das ist unsere Arbeit, davon leben wir. Nicht sehr gut, aber wir leben davon.»
Wäre das möglich?
Auch wenn ich mich leicht kolonialistisch dabei fühle, zeichne ich ein erfrischend neues Bild in meinem Kopf von dieser Region. Ich sehe transregionale und -nationale (finanzielle) Unterstützung für den Wiederaufbau eines funktionierenden Ökosystems und Wirtschaftssystems, welches es sich leisten kann, auch Migrant·inn·en fair zu bezahlen und zu behandeln. Ich sehe Bäuerinnen und Bauern, die mit ihrem landwirtschaftlichen Wissen und den guten Anbaubedingungen ganz Südspanien gesund und nachhaltig ernähren können. Ich sehe altbewährte oder innovative Systeme von z.B. Bodendeckung oder Beschattung, um der Trockenheit entgegenzuwirken. Ich würde mir für die Gegend und die Menschen hier, die ich so schätze, wünschen, dass das Land gemeinsam sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig gestaltet wird. Dass die Erde mehr genährt als ausgesaugt wird, dass die Menschen die viele Sonne auf eine nicht zerstörerische Art für sich nützen können.
Transnationale Solidarität mit den ausgebeuteten oder ignorierten Migrant·inn·en ist unbedingt erforderlich. Durch Vernetzung von verschiedenen Plattformen und Organisationen müssen wir gemeinsam dafür eintreten, dass zumindest europäische Bio-Labels dafür sorgen, dass in ihren Gewächshäusern keine Menschenrechtsverletzungen stattfinden, genauso müssen EU-Fördergelder an bestimmte Qualitätskriterien gebunden werden. Wir müssen nordeuropäische Supermärkte unter Druck setzen, sodass Gemüse nicht unter diesen Herstellungsbedingungen angeboten werden kann. Und trotzdem frage ich mich, was so eine Herangehensweise für Nebeneffekte hätte. Auch die Kleinbauern und -bäuerinnen brauchen unsere Solidarität. Sie würden durch strengere Auflagen und Kontrollen mehr unter Druck geraten, und würden im besten Fall mehr Geld verlangen von den Endkonsument·inn·en. Wenn es REWE, Lidl und Co zu teuer wird, wird eben aus Marokko importiert, wo die Anbauweise noch fragwürdiger ist und die Arbeitsbedingungen noch schlechter sind.
Wie wir es drehen und wenden, wir müssen parallel zu solidarischen Kämpfen und parallel zum Einsatz für stückweise mehr Ernährungssouveränität ganz neue Utopien zeichnen. Weil wir innerhalb dieses Systems nicht weiterkommen, müssen wir gemeinsam an mutigen, bunten und gesunden Bildern malen. Die übrigen Tage hier in Almeria möchte ich für solche Auseinandersetzungen nützen: mich gemeinsam mit Landarbeiter·inne·n, Landwirt·inn·en und Händler·innen über utopische Alternativen austauschen, offen und auf Augenhöhe.
Irina Schaltegger*
*Anthropologin, Aktivistin, Selbstversorgerin in der Hofgemeinschaft Hart 7 in Kärnten/Österreich
- Unsere LKW-Berechnungen ergeben sich aus den Zahlen zum Tomatenimport und -export der FAO-Statistiken in Tonnen, die online abrufbar sind und unseren groben Umrechnungen auf eine LKW-Anzahl bzw. deren Kolonnenlänge inklusive Abstand zwischen den Fahrzeugen.