«Hier handelt es sich um eine Naturkatastrophe, die untrennbar mit ihren politischen Hintermännern verbunden ist.» Mit dieser Einleitung erhielten wir einen Text aus Rojava[1] einige Tage nach der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien. Er erklärt den soziopolitischen Kontext, in dem die Erde bebte.
Die Internationalistische Kommune von Rojava ruft zur Solidarität mit allen Betroffenen der Erdbeben in Rojava, Syrien, Nordkurdistan und der Türkei auf. Hier die Erklärung der Internationalistischen Kommune von Rojava:
«Wir von der Internationalistischen Kommune Rojava sind von der Tragödie dieses Erdbebens zutiefst berührt. Unsere Gedanken sind bei allen Familien, die hart getroffen wurden, unabhängig von ihrer Herkunft. Bei uns hat auch die Erde gebebt, aber ohne die dramatischen Folgen, wie andere Regionen sie erleben. Selbst wenn Grenzen manchmal unüberwindbar sind, so sind die Verbindungen zwischen den Völkern doch intakt. Hier im Nordosten Syriens/Westkurdistans (Rojava) gibt es Tausende von Menschen, die eine starke Beziehung zu anderen Menschen in anderen Teilen des Landes haben, vor allem aber auch zu denjenigen in der Südtürkei/Nordkurdistan (Bakur). Wir sind der Ansicht, dass Emotionen uns jedoch nicht davon abhalten sollten, die Situation politisch zu betrachten. Was heute geschieht, ist kein Naturereignis, das von der Art und Weise losgelöst ist, wie die Gesellschaft organisiert ist, wie nationalistische und rassistische Bruchlinien die Völker spalten, wie die kapitalistische Wirtschaft den Profit über das Wohlergehen stellt und wie die Politik der Nationalstaaten von Kurzfristigkeit und Wählerstimmenfang geleitet wird.
Gegenwärtig werden viele Stimmen laut, die an das Gefühl der Solidarität und an universale Werte appellieren. Wir unterstützen diese Appelle, können aber nicht akzeptieren, dass der soziopolitische Kontext, in dem sich diese Ereignisse abspielen, ausser Acht gelassen wird. Die Verantwortung für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann nicht einfach unter dem Deckmantel einer humanistischen Vision weggewischt werden, die in den Augen der politischen Regime der Nationalstaaten der Region und in der übrigen Welt ohnehin nie real existiert hat. Die Mainstream-Medien zeigen sich zu Recht von der Situation berührt, aber dieselben Medien haben noch vor nicht allzu langer Zeit über das Leiden derselben Menschen geschwiegen und werden wahrscheinlich in einigen Wochen wieder darüber schweigen.
Geografischer und politischer Kontext
Das Erdbeben der Stärke 7,8, das sich in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 2023 ereignete, hat bereits mehr als 16.000 Opfer[2] gefordert, und leider wird diese Zahl in den kommenden Stunden wahrscheinlich noch erheblich steigen.
Die am stärksten betroffenen Regionen sind hauptsächlich kurdisch besiedelte Gebiete auf beiden Seiten der türkisch-syrischen Grenze. Sie wurden in der Vergangenheit von Ankara vernachlässigt und unterdrückt wie zum Beispiel in Gurgum (tr. Maraş), stehen im Norden Syriens unter türkischer und islamistisch-extremistischer Besatzung (z.B. in Efrîn), haben die brutale Unterdrückung Assads durchgemacht (z.B. in Aleppo) oder leben derzeit unter türkischem Beschuss (z.B. in Tel Rifat). Hinzu kommen Tausende von Geflüchteten, die vor den zahlreichen Kämpfen geflohen sind, welche die Region seit Jahrzehnten destabilisieren. Diese Katastrophe ist deshalb umso akuter, als die Bevölkerung schon seit langem mit grossen wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.
Die derzeitige Behandlung des Themas durch die Mainstream-Medien ist ein weiteres eklatantes Beispiel für die Unsichtbarmachung der kurdischen Bevölkerung. Nur wenige Medien haben sich die Mühe gemacht, darauf hinzuweisen, welche Völker in den betroffenen Regionen leben. Es geht keineswegs darum, diese Naturkatastrophe auf identitäre Weise zu deuten, denn die Natur macht keine kulturellen Unterschiede, sondern darum, sie mit einer menschlichen und historischen Realität in Verbindung zu bringen, die es uns erst ermöglicht, die Qualen wirklich zu verstehen, welche die Menschen durchleben müssen. Eine echte Solidarität kann es nur geben, wenn die Besonderheiten dieser Realität berücksichtigt werden.
Alles andere als eine Überraschung
Dieses Erdbeben ist bei weitem nicht das erste, das diese Gegend erschüttert. Die betroffene Region liegt am Schnittpunkt dreier tektonischer Platten, was sie zu einem erdbebengefährdeten Gebiet macht (so wurden in der Türkei im 20. Jahrhundert nicht weniger als 230 Erdbeben mit einer Stärke von mehr als 6 registriert, 12 davon mit mehr als 1000 Toten). In der Vergangenheit gab es zahlreiche Katastrophen, zuletzt 1999 mit fast 20.000 Todesopfern. Wenn man sich dieser Tatsache bewusst ist, wird einem klar, dass das derzeitige Regime alles andere als eine präventive Politik in diesem Bereich betrieben hat, und zwar trotz der umfangreichen EU-Hilfen für angepasste Städtebaupläne.
Seit Jahren warnen Seismolog·inn·en vor der Gefahr von tektonischen Plattenverschiebungen, ohne dass die Regierung darauf reagiert hätte. Dies ist umso skandalöser, wenn man bedenkt, wie eng die AKP[3] und Erdogan selbst mit der Baubranche verbunden sind und wie viele gigantische Projekte seit seiner Machtübernahme durchgeführt wurden.
Die Korruptionsfälle sind zahllos, sowohl bei öffentlich-privaten Verträgen als auch bei der Verwendung minderwertiger Materialien und der Nichteinhaltung von Normen. Gegner·innen dieser Projekte und Journalist·inn·en, die versucht haben, diese Fälle aufzuklären, sitzen reihenweise im Gefängnis. Die Gezi-Park-Proteste in Istanbul sind ein Beispiel dafür, dass sich grosse Teile der Bevölkerung gegen städtische Gentrifizierung, Megaprojekte und Umweltzerstörung wehren. Diese Proteste zeigen den Schaden einer Wirtschaftspolitik auf, die sich lediglich auf die Steigerung des Konsums und die Zentralisierung der Urbanisierung konzentriert, welche die Wünsche der Bevölkerung nicht berücksichtigt und eine grosse soziale Kluft schafft. In den syrischen Regionen sind die Destabilisierung und die Nachwirkungen des jahrelangen Krieges noch sehr präsent. Das Regime in Damaskus, mit anderen internationalen Verbündeten als Ankara, hat in den letzten zehn Jahren bewiesen, dass es zu allem bereit ist, um an der Macht zu bleiben. Wenn das Autonomieexperiment von Rojava toleriert wird, dann nur aufgrund der Stärke, der Entschlossenheit und der Opferbereitschaft desselben.
Ineffizienz und Repression
Wie aus zahllosen über die sozialen Medien verbreiteten Berichten hervorgeht, sind viele Gebiete, entgegen der Propaganda der türkischen Regierung, ihrem Schicksal überlassen. Vielerorts, zum Beispiel in Dîlok (tr. Antep), war in den entscheidenden zwölf Stunden nach dem Erdbeben keine Hilfe eingetroffen. Die Ineffizienz der Hilfe ist zum Teil strukturell, vorsätzlich und durch den geopolitischen Kontext bedingt. In den sozialen Netzwerken der Türkei gibt es heute sogar eisige Kommentare, in denen dazu aufgerufen wird, sich nicht um den Tod kurdischer Menschen, einschliesslich Kleinkindern, zu kümmern. Die türkische Regierung hat bereits klare Drohungen ausgesprochen, dass jegliche Kritik an den ergriffenen Maßnahmen als eine Form des Hochverrats angesehen und hart bestraft wird (es wurde eine Hotline eingerichtet, um solche «subversiven Handlungen» zu melden). Die Kriminalisierung der Opposition, die seit Jahren im Gange ist, wird von einem Regime, das in Bedrängnis ist, noch verstärkt, indem es die Rede von der angeblichen Einheit verstärkt, die in Wirklichkeit ein übertriebener Autoritarismus ist: «Wenn ihr Kritik äussert, seid ihr gegen uns und damit gegen die Nation!» Vor ein paar Stunden wurde Twitter in der Türkei einfach geschlossen.
In Syrien sind vor allem die Gebiete unter türkischer Besatzung und in den Händen islamistischer Söldner, die von Ankara bezahlt werden, betroffen. Dies führt zu einer lokalen Desorganisation und erschwert die Möglichkeit, an Hilfsgüter zu gelangen. Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES)[4] hat angekündigt, dass sie den Gebieten, die an die von ihr verwaltete Region angrenzen, Hilfe zukommen lassen will, während das Assad-Regime die internationale Hilfe monopolisieren will. Die Embargosituation in Rojava ist in diesem Moment besonders zu spüren. Die türkische Armee scheint sich trotz der Katastrophe nicht an einen Waffenstillstand halten zu wollen. So wurde beispielsweise die vom Erdbeben betroffene Region Tel Rifat erneut bombardiert.
Die Menschen nicht vergessen!
Vorrangig ist natürlich die Nothilfe. Allerdings muss bereits jetzt schon darauf geachtet werden, auf welche Weise diese Katastrophe für die bevorstehenden Wahlen im kommenden Mai in der Türkei instrumentalisiert werden wird, aber auch, welche Lehren daraus gezogen werden oder nicht. Wenn sich eine solche Katastrophe ereignet, verschwinden die Wunden und Nöte nicht mit der Aufmerksamkeit der Medien. Leben und Häuser sind zerstört; der Wiederaufbau ist ein langfristiger Prozess, der nicht nur aus Beton besteht, sondern auch die Prävention und den Aufbau lokaler Kapazitäten zur Bewältigung solcher Erdbeben einschliessen muss.
Es ist anzunehmen, dass Erdogan und Assad bereits Pläne schmieden, um auf die eine oder andere Art zu profitieren wie z. B. durch die verstärkte Kriminalisierung von Oppositionsparteien wie der HDP[5]. Es ist wahrscheinlich, dass dies im Rahmen einer nationalen Einheit geschieht, die nur eine Fassade ist, um ihre Macht auf Kosten der Interessen der Bevölkerung zu erhalten. Die ersten Anzeichen deuten darauf hin, dass diese Katastrophe keinen beruhigenden Effekt auf die kriegerischen und repressiven Absichten beider Regime haben wird, die sich ja nur auf Grund von diesen halten können. Die aktuelle Situation macht es notwendig, schnell und unilateral zu reagieren. Die spontane Solidarität darf sich jedoch nicht wieder so schnell auflösen, wie sie entstanden ist, und erneut einer Politik, die derartig katastrophale Konsequenzen auf das Leben der schwer betroffenen Bevölkerung hat, das Feld überlassen. Wir denken, dass dieses Erdbeben in vielerlei Hinsicht symptomatisch ist für die schädlichen Auswirkungen des nationalstaatlichen Paradigmas, das der Feind lokaler Autonomie und dezentraler Selbstorganisation ist, und für einen Kapitalismus, der niemals das langfristige Wohlergehen der Menschen anstrebt, sondern sich von Krisen und Konflikten ernährt. Die Region, die heute so stark betroffen ist, ist auch der Ort, an dem seit einem Jahrzehnt beharrlich ein authentisch demokratisches politisches Modell aufgebaut wird. Dieses Modell stellt eine Bedrohung für die Machthaber dar und wird deshalb von allen Seiten angegriffen. Heute wünschen wir uns, dass die Solidarität überall und konkret zum Ausdruck kommt. Morgen, wenn die Emotionen abgeklungen und die Kameras verschwunden sind, hoffen wir, dass die Menschen, die diese Region der Welt bewohnen, nicht wieder in Vergessenheit geraten. Das hängt von jedem Einzelnen von uns ab und ist die Essenz des Internationalismus, der in uns wohnt und keine Grenzen kennt. Jetzt zu helfen, um die Not zu lindern, ist unerlässlich. Ein echtes Band der internationalistischen Solidarität für die Zukunft zu knüpfen, ist lebenswichtig.»
Internationalistische Kommune von Rojava, 8. Februar 2023
Rojava (kurdisch für Westen) ist eine autonome Rebellenregion im Norden und Nordosten Syriens, die den Kommunalismus des US-amerikanischen Anarchisten Murray Bookchin in die Praxis umgesetzt hat. Die Revolution von 2012 führte dort eine frauenzentrierte Gesellschaft ein.
Inzwischen sind es mehr als 50.000 Todesopfer.
Türkisch: Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), eine islamisch-konservative Partei, die seit 2002 in der Türkei an der Macht ist.
Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien, andere Bezeichnung für Rojava.
Die Demokratische Partei der Völker (türkisch: Halkların Demokratik Partisi, kurdisch: Partiya Demokratîk a Gelan) ist eine türkische politische Partei, die in der Grossen Nationalversammlung der Türkei vertreten ist. Sie ist politisch links angesiedelt und will «die türkische Gesellschaft in ihrer Vielfalt repräsentieren».