Wir waren 80 Personen aus Deutschland, der Schweiz, Belgien und vor allem Frankreich, die Ende März nach Istanbul reisten, um unsere Freundin Pınar Selek, Soziologin, Schriftstellerin, Feministin und Antimilitaristin, am Prozesstag zu unterstützen. Seit 25 Jahren ist sie Opfer einer unglaublichen juristischen Verfolgung durch die türkischen Behörden.
Zur Erinnerung: 1998 wird die damals 28-jährige Pınar Selek verhaftet, weil sie sich weigerte, den türkischen Behörden die Namen der Kurdinnen und Kurden zu nennen, mit denen sie im Rahmen einer soziologischen Untersuchung Interviews geführt hatte. Im Gefängnis, wo sie lange gefoltert wird, findet sie heraus, dass sie beschuldigt wird, einen Anschlag auf einem Marktplatz in Istanbul verübt zu haben. Alle Untersuchungen im Laufe der Jahre zeigen, dass es sich um einen Unfall gehandelt hat. Viermal wird sie freigesprochen, zuletzt im Jahr 2014.
Im Juni 2022 hebt der Oberste Gerichtshof der Türkei diesen vierten Freispruch auf. Für den 31. März 2023 wird eine neue Anhörung vor dem Schwurgericht angesetzt und ein internationaler Haftbefehl gegen sie erlassen.
Am Freitag, dem 31. März, versammelten wir uns also auf dem Platz vor dem Çaglayan-Gerichtsgebäude, einem monströsen, runden und hohen Gebäude, das die Macht des Staates zum Ausdruck bringen soll. Es ist das grösste Gericht in Europa – mit 330 Gerichtssälen. Bevor wir das Gebäude betraten, wurde unser Versuch, eine Pressekonferenz abzuhalten, vom Gouverneur untersagt und von Dutzenden Gendarmen mit Schilden, Stöcken und Waffen verhindert. Pınars Schwester Seyda Selek erinnerte daran, dass «der demokratische Kampf in der Türkei oft über die Gerichte geführt wird». Als sie vor 25 Jahren Pınar im Gefängnis besuchte, beschloss sie daraufhin, Anwältin zu werden, um ihre Schwester verteidigen zu können.
Das Gericht hier ist mittlerweile ein regelmässiger Treffpunkt u.a. für tausende Professor·inn·en und Wissenschaftler·innen, die zu den «Akademiker·inne·n für den Frieden» gehören. Sie hatten eine Petition gegen die militärische Eskalation unterzeichnet, welche die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan nach den Wahlen vom Juni 2015 gegen die Kurd·inn·en eingeleitet hatte.
Seyda ist eine von rund 20 Anwält·inn·en – vor allem türkischen, aber auch französischen – die zum Gericht kamen, um Pınar zu verteidigen. Schliesslich verurteilte das Gericht Pınar dieses Mal doch nicht, was ein kleiner Sieg ist. Dieses Nicht-Urteil verlängert jedoch ihren juristischen Albtraum und der internationale Haftbefehl bleibt bestehen.
In Frankreich wurden in den letzten Wochen die Drohungen gegen Pınar immer deutlicher, insbesondere von den rechtsextremen türkischen Grauen Wölfen, die auch im Ausland sehr aktiv sind. Die Behörden bestätigten Pınar, die die französische Staatsbürgerschaft besitzt, dass sie auf keinen Fall in die Türkei ausgeliefert wird. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass Frankreich und internationale Institutionen wie der Europarat und die Europäische Union öffentlich ihre Unterstützung für sie zum Ausdruck bringen und erklären, dass sie den internationalen Haftbefehl gegen sie formell ablehnen. Der starke Aufschwung der rechtsextremen Parteien bei den türkischen Wahlen am 14. Mai verheisst nichts Gutes für die Zukunft. Der Sieg von Erdoğan am 28. Mai ist in jeder Hinsicht eine Katastrophe, nicht nur für Pınar, sondern auch für sehr viele politische Gefangene. Wir erinnern daran, dass die Türkei sich weigert, Selahettin Demirtas, den Führer der linken pro-kurdischen Partei HDP, und den Geschäftsmann und Philanthropen Osman Kavala1 freizulassen, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg dies der Türkei zur Auflage gemacht hat. Nun wurde ein neuer Termin für den 29. September im Gericht von Çaglayan vereinbart. Dieses Mal sollen Hunderte von Menschen ihre Unterstützung für Pınar zum Ausdruck bringen. Wir werden auf jeden Fall wieder dabei sein.
Nick Bell, EBF
Um mehr über die internationale Delegation zu erfahren, die im September zum Gericht gehen wird, schreiben Sie bitte an: ch@forumcivique.org, zu Händen von Constanze Warta.
- Osman Kavala ist seit 2017 politischer Gefangener. Er ist dafür bekannt, grosse finanzielle Unterstützung für Kultur und Bildung sowie für die Verteidigung der Rechte der kurdischen und armenischen Minderheiten geleistet zu haben.
Freundinnen und Freunde,
Wenn man lange Zeit eingesperrt ist, braucht man Hoffnung, um Widerstand leisten zu können. Obwohl uns bewusst war, dass die derzeitige Macht sich unter diesen skandalösen Bedingungen von Ungerechtigkeit, Korruption und Unterdrückung erhalten würde, erwarteten wir ein kleines Wunder. Es war nicht unmöglich, da der Abstand zwischen den beiden Kandidaten sehr gering war.
Die islamisch-nationalistische Koalition hat nicht gewonnen, aber sie wird die politische Macht noch lange halten, mit der festen Allianz von Katar und Aserbaidschan, die die ersten waren, die dem Sieger gratuliert haben. Diese alten-neuen Politiker liessen gewalttätige und skandalöse Botschaften gegenüber der Opposition verlauten. Sie sprachen sogar davon, das Herz der Opposition zu zerquetschen. Ausserdem bezeichneten sie Merve Dizdar aufgrund ihrer Rede bei der Preisverleihung in Cannes als «Terroristin». Sie hatte ihren Preis «allen Frauen, die einen Kampf führen, um die Schwierigkeiten zu überwinden und in dieser Welt zu existieren, und allen rebellischen Seelen, die auf bessere Zeiten warten» gewidmet. Dieser Wahlausgang bedeutet, dass die rebellischen Seelen zunehmend unterdrückt leben werden und zunehmend internationale Solidarität benötigen. (…)
Pınar Selek am Tag nach dem 2.Wahldurchgang