In der Türkei hat die derzeitige Regierung gerade ihren zwanzigsten Jahrestag gefeiert. Diese zwanzig Jahre anhand anderer Jahrestage in diesem Land genauer zu betrachten, hilft, die aktuellen Ereignisse besser zu verstehen – von der Explosion am 13. November 2022 in Istanbul, den Aggressionen gegen die Kurdinnen und Kurden bis hin zu den Repressionen, denen die Opposition ausgesetzt ist.*
Das folgende geschah vor der aktuellen Regierung: 1998 wurde ich von der türkischen Polizei festgenommen als ich eine Forschungsarbeit über die kurdische Bewegung durchführte. Ziel war es, mich dazu zu zwingen, die Namen meiner Gesprächspartner·innen preiszugeben. Ich weigerte mich. Die Folter dauerte Tage und Nächte. Ich weigerte mich. Schliesslich warfen sie mich – inzwischen in einem schrecklichen Zustand – ins Gefängnis. Dort traf ich mehrere Frauen, die gefoltert und vergewaltigt wurden. Hätte ich gewusst, dass es damals 35.000 politische Gefangene gab und dass systematisch gefoltert wurde, hätte ich besser verstanden, warum ich zweieinhalb Jahre lang mit den Schreien der gefolterten Frauen verbracht habe.
Am 19. Dezember 2000 gab es die «Operation Rückkehr ins Leben», ein mörderisches Vorgehen gegen politische Gefangene, die in einen Hungerstreik getreten waren. Der Staat zielte auf unsere völlige Isolation ab. Es war ein Massaker. Ich habe meine Freundinnen und Freunde sterben sehen und ihre Schreie im Feuer gehört. Das war vor der jetzigen Regierung. Am 22. Dezember 2000 wurde ich aus dem Gefängnis entlassen, nicht aber aus dem falschen Film, der mich heute dazu zwingt, im Exil zu leben. Trotz vier Freisprüchen lebe ich seit 24 Jahren unter der Bedrohung einer lebenslangen Haftstrafe. Mein Prozess spiegelt sowohl die Kontinuität des autoritären Regimes in der Türkei als auch die Muster der repressiven Vorgehensweisen wider.
Durch Vernichtung entstanden
Im Jahr 2022 jährte sich zum hundertsten Mal die Kleinasiatische Katastrophe1, die, historisch gesehen, dem Massaker und der erzwungenen Ausreise von mehreren Hunderttausend Griech·inn·en entspricht. Parallel dazu war der hundertste Jahrestag des Vertrages von Lausanne, der Kurdistan in vier Teile zerschnitten hatte. Der nationalistische und militaristische türkische Nationalstaat, der aus dem Völkermord an den Armenier·inne·n und den Massakern an Griech·inn·en und Kurd·inn·en hervorgegangen war, festigte seine Legitimität mithilfe einer mythologisch-religiösen Sprache.
Erst nach dem dritten Militärputsch von 1980 führte der Widerstand der kurdischen Bewegung zu einer grenzüberschreitenden Volksbewegung und einem Krieg, der bis heute anhält. Darüber hinaus veränderten das Aufkommen und die Konvergenz neuer sozialer Bewegungen die Art und Weise der Mobilisierung: Die feministische, ökologische, antimilitaristische und LGBT-Bewegung bildeten den neuen Zyklus der Proteste, der sich durch einen widerständigen Pazifismus auszeichnete.
Sobald ich aus dem Gefängnis entlassen worden war, wurde ich Zeugin eines revolutionären Klimas und der gleichzeitigen Verschärfung der Repression. Seit 1992 wurden etwa 2000 Intellektuelle und Aktivist·inn·en getötet. Unter der Ausnutzung des Krieges gegen das kurdische Volk strukturierte sich der Staat zunehmend. Der Nationale Sicherheitsrat, der vom Militär gebildet wurde, zwang der Regierung seine eigene Agenda auf. Dennoch ging die Revolution von unten weiter. Im Jahr 2002 betrat dann die neokonservative und neoliberale «Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung» (AKP) mit Unterstützung des Westens die Bühne. Ihr Versprechen war es, einen wirtschaftlichen und politischen Liberalismus einzuführen, der sich auf einen muslimisch geprägten Konservatismus stützt.
Enttäuschte Hoffnung
Als sie an die Macht kam, stellte sie die Herrschaft des türkischen Nationalen Sicherheitsrats in Frage, näherte sich der EU an und zeigte sich in der Armenier- und Kurdenfrage dialogbereit. Auch wenn sie mit neo-osmanischen Plänen vermischt waren, weckten diese Imageänderungen in den ersten Jahren ihrer fünfjährigen Amtszeit Hoffnungen in Europa. Doch unter dem Zusammenspiel vielfältiger Faktoren im Zusammenhang mit transnationalen wirtschaftlich-politischen Allianzen scheiterte die neo-osmanische Politik im Nahen Osten und schwächte die AKP. Die kleinen Öffnungen schlossen sich daraufhin schnell wieder.
Am 19. Januar 2007 wurde Hrant Dink, ein armenischer Journalist, der die Anerkennung des Völkermords an den Armenier·inne·n forderte, ermordet. Im Jahr 2009 verliess ich die Türkei, nachdem der Oberste Gerichtshof meine Verurteilung zu einer lebenslangen Haftstrafe gefordert hatte. Die soziale Mobilisierung ging jedoch unvermindert weiter. Die Gezi-Proteste im Jahr 2013, die von den internationalen Medien als «türkischer Frühling» bezeichnet wurden, brachten die Revolution von unten, die im Gange war, ins Rampenlicht. Bis dahin hatte der Staat diese Dynamik nicht wahrgenommen. Doch jetzt meldete sich der «tiefe Staat» zurück und die AKP reagierte, indem sie sich mit den Grauen Wölfen verbündete. Die Türkei trat damit in eine besondere Phase ihrer Geschichte ein, die von wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialer Deregulierung geprägt ist.
Die kurdische Demokratiebewegung wurde äusserst brutal angegriffen. Ihre Abgeordneten und Bürgermeister·innen wurden inhaftiert, die Rathäuser beschlagnahmt. Massenhafte Verfolgungen, Ermordungen, endlose Prozesse, Inhaftierungen ohne Anklage, Verurteilungen aufgrund von unsichtbaren Zeug·inn·en waren an der Tagesordnung. Dabei wurden kurdische Feministinnen besonders ins Visier genommen. Im Januar 2020 gab es in der Türkei etwa 80.000 politische Gefangene: Aktivist·inn·en, Journalist·innen, Künstler·innen, Anwält·innen, Schriftsteller·innen, Akademiker·innen, Abgeordnete und Bürgermeister·innen ... Können Sie sich ein Land vorstellen, das all diese Menschen einsperrt?
Beispielsweise wurden 2022 acht Intellektuelle, Kunstschaffende und Friedensaktive entweder zu lebenslanger Haft oder zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie – laut Anklage – durch die angebliche Organisierung der Gezi-Proteste versucht hätten, die Regierung zu stürzen. Und als Sebnem Korur Fincanci, die Präsidentin der nationalen Ärztekammer, mit Videos auf chemische Bomben aufmerksam machte, die der türkische Staat gegen die Kurd·inn·en einsetzt, landete sie im Gefängnis. Eine staatliche Strategie des Chaos und der Spannung hat sich entfesselt, die von einem übersteigerten Nationalismus begleitet wird. Dieses Klima verhindert ein mögliches Wahlbündnis zwischen Kurd·inn·en und Kemalist·inn·en. Die angeschlagene Regierung spielt ihr düsteres politisches Repertoire durch.
Positionierung der westlichen Länder
Der Anschlag in Istanbul am 13. November 2022 war ein Vorbote des Schlimmsten. Ich verfolgte diesen Horror mit kaltem Schaudern. Nachdem die türkischen Behörden sofort die Kurd·inn·en als Schuldige ausgemacht hatten, starteten sie die Luftoperation «Schwertkralle» im Nordirak und in Syrien und setzten dabei verstärkt chemische Waffen ein. Dabei töteten sie dutzende Menschen – gerade jene, die gegen den sogenannten «Islamischen Staat» (IS) gekämpft hatten. Mit dem grünen Licht Russlands und dem komplizenhaften Schweigen der Europäischen Gemeinschaft, die versucht, ihre kurzfristigen wirtschaftlichen und finanziellen Interessen zu retten, vervielfacht die türkische Regierung ihre Aggressionen, begleitet von der Ermordung von Aktivist·inn·en und Intellektuellen. Die gezielte Ermordung der feministischen Journalistin Nagihan Akarsel zeigt, dass auch Exilierte nicht sicher sind. Aufgrund ihres Engagements war sie jahrelang in der Türkei im Gefängnis gewesen und emigrierte in den Irak. Am 4. Oktober 2022 wurde sie vor ihrem Haus in Irakisch-Kurdistan erschossen. Feministische Gruppen und ihre Arbeitskolleg·inn·en machen den türkischen Geheimdienst für den Anschlag verantwortlich. Auch in Europa sind die türkischen Dienste sehr aktiv.
Der Verlauf des Jahres 2023 ist absehbar. Anlässlich von wichtigen Wahlterminen wird es zu neuen Explosionen oder Anschlägen kommen – organisiert von «Unsichtbaren». Die Ermittlungen werden nie abgeschlossen, genau wie bei der Verschwörung, der ich zum Opfer gefallen bin. In diesem Jahr wird das 100-jährige Bestehen der Republik Türkei gefeiert, wobei der kemalistische Nationalismus verherrlicht wird. Auch wenn die sozialen Bewegungen in diesem Land wie Pflanzen sind, die aus dem Beton wachsen, ist die Kluft zwischen ihren Ressourcen und denen der Machthaber grausam. Solange die westlichen Länder keine klare Position gegen diese Verbrechen beziehen, wird die Türkei nicht aus dem Tunnel des Grauens herauskommen, in dem sie gefangen ist. Europa muss das Schweigen brechen!
Pinar Selek, Soziologin und Schriftstellerin
- Als Griechisch-Türkischer Krieg werden die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Königreich Griechenland und dem anatolischen Teil des im Ersten Weltkrieg zerschlagenen Osmanischen Reiches in den Jahren 1919 – 1922 bezeichnet. In Griechenland wurde die Niederlage gegen die Türken als «Kleinasiatische Katastrophe» wahrgenommen, aus türkischer Sicht wird das Massaker hingegen als Sieg im Türkischen Befreiungskrieg bezeichnet.
- Artikel auf Französisch erschienen am 12. Dezember 2022 auf Pinar Seleks Blog www.blogs.mediapart.fr/pinar-selek.