Die Repression der türkischen Staatsmacht nährt die Welle der Solidarität für die Schriftstellerin, Soziologin und Aktivistin. Heute kann sie auf ein dichtes Netz von Unterstützer·innen zählen – durch alle Gesellschaftsschichten hindurch.
Die 1998 von der türkischen Justiz eingeleitete Repression gegen die damals junge Schriftstellerin, Aktivistin und Soziologin Pinar Selek hatte zum Ziel, ihre Forschung und ihre Aktionen für Gerechtigkeit zu behindern und das Echo ihrer Stimme zu ersticken. In Wirklichkeit bewirkte sie das Gegenteil: Sie trug dazu bei, dass die Stimme dieser widerständigen Frau von der nationalen auf die transnationale Ebene übertragen wurde. Sie hat die Zahl der Unterstützer·innen, die sich an ihrer Seite engagieren, um das Zehnfache erhöht. Angesichts dieser Tatsache haben die Machthaber bislang beschlossen, auf ihrem Fehler zu beharren und sich immer weiter in die Sackgasse zu begeben, in die sie sich hineinmanövriert haben.
Die erste Episode dieser politischen Niederlage geht auf die Inhaftierung von Pinar Selek von 1998 bis 2000 zurück. Die Bekanntgabe einer frei erfundenen Terrorismus-Anklage, die sie betraf, sorgte in der Türkei für ein enormes Medienecho. Schon bald stellten sich zahlreiche Medien auf die Seite dieser engagierten jungen Frau, die Opfer einer plumpen juristischen Konstruktion wurde, mit der sie zum Schweigen gebracht werden sollte. Die junge Aktivistin und universitäre Forscherin verliess das Gefängnis mit einem erhöhten Bekanntheitsgrad und konnte in der Folge starke Aktionen innerhalb der feministischen und antimilitaristischen Bewegung durchführen. Die systematische Berufung, die der Staat nach jedem ihrer Freisprüche einlegte, hat sie immer wieder ins Rampenlicht der Medien gerückt und wohl unbeabsichtigt zu der grossen Resonanz auf ihre Aktionen und Recherchen beigetragen.
Im Jahr 2009 musste Pinar Selek aus der Türkei ins Exil gehen und sich von ihren Verpflichtungen und ihren Angehörigen losreissen. Diese von einem Tag auf den anderen erzwungene Ausreise, die zwangsläufig schmerzhaft war, ermöglichte es ihr aber, auf zahlreiche internationale Netzwerke zu treffen, die sich ihrem Engagement anschlossen und sich für die Verteidigung ihrer Rechte einsetzten. Vom Internationalen Pen-Club bis zum Weltweiten Marsch der Frauen, von der Liga für Menschenrechte bis zu französischen und europäischen akademischen Forschungsverbänden – die Liste liesse sich endlos fortsetzen.
In den fast 15 Jahren, in denen Pinar Selek im Exil lebt, haben die unzähligen Begegnungen, die sie gemacht hat, die Freundschaften, die politischen und literarischen Komplizenschaften, die sie geschlossen hat, die Recherchen, die sie durchgeführt hat, die militanten Initiativen, in denen sie sich engagiert hat, ein sehr dichtes Netz in zahlreichen Ländern geknüpft – von Deutschland bis Frankreich, von der Schweiz bis Italien oder Tunesien. Dieses aufgezwungene Exil hat die Anzahl der Leserinnen und Leser ihrer Romane, Essays oder Erzählungen vervielfacht; es hat den Kreis der Menschen erweitert, die heute über die Entwicklung der feministischen, Lgbt+ und der antimilitaristischen Bewegung in der Türkei informiert sind. Ihre Werke werden weiterhin veröffentlicht, neu aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt.
Die türkische Politik wollte verhindern, dass ihre «subversiven» Ideen auf andere übergreifen, hat es jedoch geschafft, die Reichweite ihrer Ideen über ihre Grenzen hinaus erheblich zu vergrössern. So funktioniert das Feuer, und selbst ein autoritärer Staat kann nichts dagegen tun. Jedes Mal, wenn der türkische Staat gegen einen Freispruch von Pinar Selek Berufung einlegt, ist es so, als würde er, anstatt das Feuer zu löschen, auf die Glut blasen.
Zwei Tage vor der erneuten Anhörung im Prozess gegen Pinar Selek, die am 29. September in Istanbul in Anwesenheit einer starken internationalen Delegation stattfinden wird, kommen wir – ihre zahlreichen Solidaritätskomitees – hierher, um Zeugnis abzulegen von der Welle der Solidarität, die Pinar Selek umgibt und trägt. Überall in Frankreich, in der Schweiz und anderswo finden Unterstützungsveranstaltungen statt. Zahlreiche Tribünen wurden veröffentlicht, darunter kürzlich eine von Persönlichkeiten aus der Welt der Literatur unterzeichnete. 26 Mitglieder des Europarates haben eine schriftliche Erklärung gegen die gerichtliche Verfolgung, der sie ausgesetzt ist, verabschiedet. Eine weithin unterzeichnete Petition wurde über die türkische Botschaft in der Schweiz an die türkischen Behörden gesandt und Vieles mehr.
Dieser endlose Prozess muss beendet werden. Pinar Selek muss endgültig freigesprochen werden. Die politisch-juristische Hetze, die sie in ihrer akademischen Arbeit als Forscherin und in ihren feministischen und antimilitaristischen Aktionen bremst, ist unerträglich und quälend. Wir werden der Ungerechtigkeit nicht nachgeben!
Liebe Pinar, du überraschst uns immer wieder. Mit der Veröffentlichung deines Buches «Le Chaudron militaire turc» («Der türkische Militärkessel») als Antwort auf die juristisch-politischen Schikanen, die versuchen, Dich zum Schweigen zu bringen, hast du aussergewöhnlichen Mut und Kühnheit bewiesen. Die Freiheit des Denkens, der Forschung und der Meinungsäusserung, die du täglich praktizierst, machen dich zu mehr als einer Soziologin, sie machen dich zu einem Symbol des Widerstands gegen den zunehmenden Totalitarismus in der Türkei und anderswo. Deine Stärke und Entschlossenheit sind ansteckend. Wir danken und versprechen dir, dass wir nicht nachlassen werden. Die internationale Solidarität ist stärker als ihre billigen Tricks und Gewalttaten.
Marianne Ebel und Guillaume Gamblin, im Namen der Solidaritätskollektive am Abend des 27. September 2023, Paris.
Die Justizgroteske geht weiter
Heute, am 29. September 2023, wurde im türkischen Justizpalast in Istanbul wieder kein definitives Urteil über Pinar Selek ausgesprochen. Für ein rechtskräftiges Urteil fehlen einige Voraussetzungen. 1) Das Anklagedossier entbehrt jeglicher Beweise ihrer Schuld.
2) Die Präsenz von Pinar an der Audienz wird von der Staatsanwaltschaft verlangt, ist jedoch für sie nicht möglich, da sie in der Türkei politisch verfolgt wird. Um sie in die Türkei zu zwingen, soll ein internationaler Haftbefehl via Interpol gegen sie erlassen werden, was bis heute nicht geschehen konnte, weil dafür gewisse Prüfungen notwendig sind. 2014 wurde dieses Gesuch bereits von Interpol abgelehnt. Der Staatsanwalt zielt ausserdem darauf ab, ihre Auslieferung in die Türkei zu erwirken, was Frankreich kaum durchführen wird, da Pinar französische Staatsbürgerin ist.
Die heutige Anwesenheit zahlreicher türkischer, französischer und Schweizer Anwälte und Anwältinnen, Wissenschaftler·innen, Schriftsteller·innen, Gewerkschafter·innen, Universitätsprofessor·innen und Gesandte verschiedener Menschenrechtsorganisationen war sehr imposant und stand einem extremen Polizeiaufgebot gegenüber. Bis auf Weiteres,
Constanze Warta und Michael Rössler