Wenn ich auf dem Dach meines Hauses in Lesvos, Griechenland, stehe, kann ich die Türkei fast bei jedem Wetter sehen. Auf der Südseite der Insel ist die Ägäis aus bestimmten Blickwinkeln so schmal, dass man sie fast nicht sieht, und die beiden Länder bilden eine durchgehende Landmasse. Was man jedoch sieht, sind dutzende Migrant·innen, die ihr Leben riskieren, um auf dem gleichen, vergleichsweise schmalen, aber immer noch riskanten Meer nach Europa zu gelangen. (Zweiter Teil folgt im nächsten Archipel).
Aber warum ist das so? Seit 2016 hat die Europäische Union ein Abkommen mit der Türkei – das sogenannte EU-Türkei-Abkommen – unterzeichnet und die Türkei zu einem «sicheren Drittstaat» für Migrant·innen erklärt. Kurz zusammengefasst sieht dieses Abkommen vor, dass die Türkei Geflüchtete mit finanzieller Unterstützung der Union aufnimmt und gleichzeitig versucht, die Menschen daran zu hindern, nach Griechenland zu gelangen. Seit der Unterzeichnung des Abkommens haben die Beamt·innen der griechischen Einwanderungsbehörde den Zweck des Asylgesprächs geändert. Die Frage lautet nicht mehr «Warum haben Sie Ihr Heimatland verlassen?», sondern «Warum ist die Türkei kein sicheres Land für Sie?» Wenn man einen Blick auf die wirtschaftliche und soziale Situation in der Türkei wirft, scheint die Antwort auf diese Frage offensichtlich zu sein. In verschiedenen Presseartikeln wird beschrieben, dass die Bemühungen der Behörden, Migrant·innen aufzuspüren und abzuschieben, eskalieren. Trotz der Millionen Euro, die die EU an die Türkei schickt, um die Integration und Unterbringung zu erleichtern, erzählen die Menschen von Schikanen, fremdenfeindlicher Gewalt und willkürlichen Inhaftierungen.
Die politische Lage in der Türkei ist bekanntermassen kompliziert. Das autoritäre Erdogan-Regime unterdrückt die kurdische Bevölkerung sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Landesgrenzen, aber auch alle Menschen, die mit ihr oder ihrem Kampf in Verbindung gebracht werden. Zu diesem Zweck hat es sich in den Konflikt in Syrien eingemischt. Ausserdem richtete das Regime in Teilen des Gebietes, das von den Kurd·innen gehalten wird, eine sogenannte «Sicherheitszone» ein, um Syrer·innen dorthin vertreiben zu können. Inzwischen wurden auch Wahlen abgehalten. Erdogan und seine Partei trugen, mit ein paar Prozent mehr Stimmen, den Sieg über die gegnerische Koalition davon. Diese Wahlen waren auch eine Gelegenheit für viele neue rechtsextreme Parteien, auf sich aufmerksam zu machen. So kam es zu einem deutlichen Anstieg der Gewalt gegen Ausländer·innen.
Angesichts der zahlreichen Berichte, Erzählungen und Inhalte in den sozialen Medien wollte ich mehr darüber erfahren. Ziel der Reise in die Türkei war es, sich ein Bild von der aktuellen Situation zu verschaffen, mit der Geflüchtete konfrontiert sind, wenn sie sich in diesem Land aufhalten. Es ging darum, einen Kontrast zu der Tatsache herzustellen, dass die EU die Türkei als sicheres Land für Geflüchtete ansieht. Ich wollte mir ein Bild machen, indem ich nicht nur Informationen beschaffte, sondern diese Informationen auch mit den Erfahrungen der Menschen vor Ort kontextualisierte. Zu diesem Zweck beschloss ich, nach Izmir zu reisen, einer Stadt an der Westküste der Türkei, die eine lange Geschichte der Migration und Integration sowie der Ausgrenzung und ethnischen Gewalt hat. Sie ist die drittgrösste Stadt der Türkei mit fast viereinhalb Millionen registrierten Einwohner·innen – mehr als Berlin oder Madrid. Sie ist das grösste städtische Zentrum an der Ägäis und die wichtigste Drehscheibe für Migrant·innen, die versuchen, über Griechenland nach Europa zu gelangen. Ich schloss mich mit der erfahrenen Journalistin Hibai Arbide Aza und dem lokalen Produzenten Diyar Saraçoğlu zusammen, um Interviews aufzunehmen und einen Podcast für das Programm «Von Unten» von Radio Helsinki und seinem Schwesterprojekt auf Lesvos, «VC Mytilini», zu produzieren. Wir führten mehrere formelle Interviews mit Anwält·innen und Aktivist·innen, die vor Ort arbeiten. Darüber hinaus trafen wir uns mit vielen verschiedenen Menschen, die uns einen Teil ihrer Geschichten und Erfahrungen mit der Stadt und ihrem aktuellen sozialen Klima erzählten.
Eine Stadt mit vielen Gesichtern
Kurz nach unserer Ankunft in Izmir am frühen Morgen trafen wir uns am Busbahnhof von Izmir, der riesig ist. Diyar holte uns ab. Während der Autofahrt besprachen wir unser Programm für die nächsten Tage, da er mit mehreren Personen in Kontakt gestanden hatte, die an einem Treffen mit uns interessiert waren. Unter ihnen waren einige Anwält·innen und Aktivist·innen. Unsere Gespräche führten uns durch verschiedene Stadtviertel, darunter das Finanzviertel Basmani. Innerhalb von zehn Minuten mit der Strassenbahn ändert sich die Szenerie völlig, wo man von einer Art Pariser Viertel zu einer Nebenstrasse wie in Neukölln, einem libanesischen Markt und dann zu einem Boulevard am Meer gelangt, der stark an Thessaloniki erinnert. Es ist eine beeindruckende Stadt, in der die Kluft zwischen den sozialen Klassen in die Skyline gemeisselt ist, wo grosse moderne Gebäude die von den Bewohner·innen selbst errichteten Slums überschatten.
Ihre reiche Geschichte ist tief mit Migrant·innen und Geflüchteten aus verschiedenen Epochen verbunden. Spanische Juden und Jüdinnen, die vor der Inquisition flohen, Kurd·innen, Armenier·innen und viele andere liessen sich im Laufe der Jahre in bestimmten Teilen der Stadt nieder. Izmir spielte auch eine sehr wichtige Rolle bei der Bildung der türkischen Republik. Der damit verbundene Bevölkerungsaustausch führte dazu, dass Tausende von Menschen die Stadt und das Land zwangsweise verliessen. So wie in vielen anderen Grossstädten der Welt gewinnt die Kluft zwischen den sozialen Schichten der Stadt immer mehr an Boden. Trendige Bars und Cafés, die oft mit Strassenkunst dekoriert sind, säumen die gehobeneren Viertel wie Alsancak.
Basmani, ein Mikrokosmos
Im Zentrum des Stadtteils Basmani befindet sich der Basar, der nur wenige Schritte vom berühmten Uhrenturm entfernt ist. Um den Basar herum findet man kleine, von Geschäften gesäumte Strassen, die zu einer Moschee führen. Diyar erklärt uns, dass die Stadt vor kurzem eine Politik eingeführt habe, aufgrund derer die arabischen Ladenschilder, die in Basmani üblich waren, verboten sind. Nun wurden alle Namen phonetisch ins Türkische übersetzt, wobei viele farsische und arabische Namen und Wörter erkennbar sind. Dies ist ein kleines, aber bedeutsames Zeichen für den zunehmenden institutionellen Rassismus, der sich seit einigen Jahren entwickelt. Es sind offensichtlich viele Migrant·innen anwesend, doch die Gegend ist nicht sicher. Jedes Mal, wenn ein·e Migrant·in in diesem Viertel einen Fuss nach draussen setzt, läuft er/sie Gefahr, festgenommen, inhaftiert und möglicherweise abgeschoben zu werden. Seit über einem Jahrhundert ist die erste Anlaufstelle für Migrant·innen, die in Izmir ankommen, der Stadtteil Basmani. Und das ist auch heute noch der Fall. Seit der Öffnung der Grenze zu Syrien ist dies der Ort, an den sich Menschen begeben, die versuchen, nach Europa zu gelangen. Im Jahr 2016 hatte ich bereits einige Zeit dort verbracht und die Lage war damals sehr schlecht. Es war ungefähr zu der Zeit, als das Abkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft trat und die Menschen auf beiden Seiten der Ägäis festsassen. In der Nähe von Basmani schliefen viele Menschen auf der Strasse und warteten auf ihre Chance. Nach dem, was ich gesehen hatte, schliefen dieses Mal weniger Menschen im Freien. Es stellte sich jedoch heraus, dass dies nicht nur ein gutes Zeichen war.
Omar, von Beruf Stadtplaner, arbeitet seit Jahren mit Migrant·innen im Stadtteil Basmani. Er unterstützt die Menschen privat, war aber auch in verschiedenen sozialen Räumen des Viertels aktiv, die im Laufe der Jahre entstanden und wieder verschwunden sind. Er erklärt uns die Geschichte von Basmani: «Seit dem 16. Jahrhundert liessen sich die ersten Migrant·innen, von denen wir wissen, hier nieder. Es handelte sich um vor der spanischen Inquisition geflüchtete sephardische Juden. Nach dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Basmani erneut zum Aufenthaltsort. Es ist sozusagen der erste Ort, an dem sich immigrierte Menschen niederlassen. Es ist sehr billig hier und man kann Häuser zu nicht allzu hohen Mieten finden. In den 1980er Jahren, als das «Kurd·innenproblem» in der Türkei begann, wählten die Kurd·innen ebenfalls Basmani und Umgebung als Zufluchtsort. Und vor kurzem kamen aus Syrien Geflüchtete nach Basmani, und zuletzt vor allem afrikanische Flüchtlinge.»
Anfangs öffnete Erdogan die Grenze vor allem für Syrer·innen. Offiziell und gesellschaftlich nehmen sie in der türkischen Gesellschaft eine andere Stellung ein als Menschen anderer Herkunft. Syrer·innen haben Anspruch auf internationalen Schutz und wurden von der Gesellschaft zunächst besser aufgenommen. Anfangs war es für sie leichter, Arbeit zu finden, Geschäfte zu eröffnen und generell am Leben der türkischen Gesellschaft teilzunehmen. Das bedeutet nicht, dass sie nicht unter Diskriminierung oder Unterdrückung gelitten haben. Im Vergleich zu anderen Milieus gab es jedoch einen Unterschied. In den letzten Jahren kamen viele Afghan·innen in die Türkei und später auch Menschen aus verschiedenen Ländern des afrikanischen Kontinents. In unserem Gespräch mit Omar sprechen wir auch dieses Thema an: «Die meisten Geflüchteten leben ‚informell‘. Sie sind nicht als Arbeiter·innen registriert. Manchmal haben sie keine offizielle Adresse. Ich spreche jetzt von den Syrer·innen, aber es gibt auch afrikanische Flüchtlinge; ich meine, die wir in diesem Interview als Flüchtlinge bezeichnen, die aber eigentlich keine sind. Keine·r von ihnen hat den Flüchtlingsstatus. Was die Afrikaner·innen betrifft: Selbst ihre Existenz ist nach dem Gesetz illegal. Die Polizei sieht sie daher nicht. Und wenn sie diese doch sieht, wenn sie die Kontrollen verstärkt, werden sie in Bussen eingesammelt, denn wenn sie kontrolliert werden, haben sie keine Papiere.»
Vor einigen Jahren war hier auch der Ort, an dem Menschen in grosser Zahl auf der Strasse schliefen und viele Geschäfte Schwimmwesten verkauften, in einem zynischen Versuch, von den gefährlichen Überfahrten, die nachts stattfanden, zu profitieren. Heute gibt es weniger Schwimmwesten in den Geschäften, aber sie sind immer noch voll mit Migrant·innen. Historisch gesehen ist Izmir ein wirtschaftlich zugänglicher und vielfältiger Ort. Doch diese Situation änderte sich in den letzten Jahren. Und das nicht nur in Basmani.
Anstieg der Fremdenfeindlichkeit
Vor einigen Monaten fanden in der Türkei Wahlen statt. Sie wurden von den europäischen Medien gut dokumentiert, was vor allem daran lag, dass dem Bündnis zwischen den verschiedenen Oppositionsparteien im Vorfeld der Wahlen viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dieses Bündnis wurde von Kemal Kılıçdaroğlu angeführt, der in einer Rede auf die Situation der Migrant·innen in der Türkei einging und ausdrücklich erklärte, dass er mit dem EU-Türkei-Abkommen nicht einverstanden sei und dass er, sobald er an der Macht sei, versuchen werde, viel mehr Migrant·innen abzuschieben als Erdogan. Dies ist ein Zeichen dafür, dass der Anstieg der Fremdenfeindlichkeit an Fahrt gewinnt. Es deutet aber auch darauf hin, dass die Beziehung zwischen den «neuen» Migrant·innen und der aktuellen Regierung kompliziert ist.
Ayşegül Karpuz Tör, eine bekannte Strafverteidigerin und Anwältin in der Region Izmir, beschreibt die Dichotomie der türkischen Migrationspolitik folgendermassen: «Wenn man als Anwältin mit Migrant·innen arbeitet, sieht man auf eine sehr interessante Weise, dass der Staat in Wahrheit eine doppelseitige Einwanderungspolitik betreibt. Als moralistische Anwältin kann ich sagen, dass die türkische Regierung durch die vollständige Öffnung der Grenzen zu Syrien während des syrischen Krieges der Welt eine grosse Lektion in Bezug auf die Menschenrechte und Flüchtlingsrechte erteilt hat. Und das sage ich als linke Anwältin, die sich nicht an der Regierung oder dem Staat oder dessen Weltanschauung oder Politik orientiert. In Wirklichkeit (und niemand sollte beleidigt sein) hat Europa, was die Aufnahme der Geflüchteten oder Migrant·innen angeht, im Vergleich zur Türkei versagt. (…) Aber es gibt ein Problem: Der Staat möchte diese migrantische Bevölkerung durch das Prisma der Bruderschaft unter Muslimen regieren. Die Türkei ist jedoch keine klassische islamische Gesellschaft. Interessanterweise weist der islamische Teil der türkischen Gesellschaft, entgegen den Erwartungen des Staates, stärkere Tendenzen zu Nationalismus und Rassismus auf. Die meisten rassistischen Angriffe, die wir auf Migrant·innen beobachten, finden in armen und stark muslimischen Stadtvierteln statt. Aus politischer Sicht weist die Türkei eine komplexe Geografie auf, wenn es darum geht, wie mit Migration umgegangen wird. Wenn ich mit einer nationalistischen oder konservativen Person konfrontiert bin, ertappe ich mich manchmal dabei, dass ich die Migrationspolitik des Staates verteidige. Leider ist Europa in dieser Hinsicht nicht aufrichtig: Es beurteilt die Politik der Türkei nicht fair oder realistisch. Die Türkei macht in ihrer aktuellen Situation auch keine Fortschritte, was das Leben und die Existenz dieser Menschen auf lange Frist angeht. Die Situation ist sehr widersprüchlich.»
Dirk Tobias Reijne, No Border Kitchen, Lesvos Fortsetzung im nächsten Archipel
Kurz vor Redaktionsschluss: Die AKP, die Partei von Präsident Erdogan, erlitt bei den Kommunalwahlen vom 31. März 2024 in der Türkei überraschenderweise eine empfindliche Niederlage. In den fünf grössten Städten des Landes konnte sich die grösste Oppositionspartei, die kemalistische CHP, durchsetzen. Auch landesweit konnte die CHP die meisten Stimmen gewinnen. Im Osten der Türkei setzte sich die linksgrüne DEM in vielen Provinzen durch.