UKRAINE: Brief aus der Ukraine

von Jürgen Kräftner, EBF, 07.01.2024, Veröffentlicht in Archipel 332

Wiederum möchte ich, nach längerer Zeit, einige Informationen und Gedanken aus der Ukraine mit euch teilen. Es geht mir darum, ein paar grundsätzliche Tatsachen zu vermitteln, aber auch meine subjektiven Eindrücke wiederzugeben.

Schon im Sommer und spätestens im Herbst 2023 mussten wir uns mit der schrecklichen Vorstellung abfinden, dass dieser Krieg noch lange andauern wird, wahrscheinlich Jahre. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Waleri Saluschny, gab kürzlich in einem Interview zu, dass er die russische Hartnäckigkeit unterschätzt habe, grenzenlos Infanteriesoldaten in Angriffen zu opfern, die hierzulande als «Fleischangriffe» bezeichnet werden. Die Verluste an Menschenleben sind kolossal, aber das scheint keine Rolle zu spielen. In der Nähe der Stadt Awdijiwka, unweit von Donezk, sollen die Russen im November täglich mehr als tausend Mann verloren haben, und das Gemetzel hält an. Neben Schwerverbrechern, die aus den Gefängnissen an die Front gebracht und nach sechs Monaten Kriegsdienst begnadigt werden, gibt es auch eine unerschöpfliche Zahl armer Kerle aus entfernten russischen Provinzen, die davon träumen, ihre Schulden mit dem Sold der Armee zu begleichen. Für viele von ihnen erweist sich diese Entscheidung als fatal. Ich glaube, dass Saluschny mit dem Interview vor allem seine Soldaten vor den wunschgelenkten Fehleinschätzungen von Politiker·innen und Medien sowohl in der Ukraine als auch im Ausland schützen wollte. Die Erwartungen an die «grosse Gegenoffensive» waren offensichtlich zu hoch und ignorierten die Tatsache, dass sich die Russen bereits seit fast einem Jahr auf diese vorbereiteten[1].

Das allmächtige Präsidialamt in der Kiewer Bankova-Strasse reagierte verärgert auf Saluschnys Interview. Das lässt sich gut aus einer Umfrage von Anfang Dezember erklären: Binnen eines Jahres ist das Vertrauen der ukrainischen Bevölkerung in den Präsidenten von 84 auf natürlich immer noch beachtliche 62 Prozent gefallen; Saluschny hält sich hingegen bei 88 Prozent! Das Vertrauen in die ukrainische Armee liegt unverändert bei 96 Prozent. Die Drahtzieher in der Bankova befürchten, dass Saluschny bei nächster Gelegenheit von der Armee in die Politik wechseln könnte.

10 Jahre nach dem Maidan

In diesen Tagen erinnern wir uns in der Ukraine an den Maidan vor genau zehn Jahren. Dieser dreimonatige Aufstand war das grosse (und schmerzhafte) Aufwachen der ukrainischen Gesellschaft, ein kollektiver Bewusstseinswandel. Am Ende floh der Präsident-Diktator nach Russland; dieses besetzte daraufhin die Krim und begann den Krieg im Donbas. Wer den Maidan in seiner ganzen Komplexität nicht versteht, versteht auch den heutigen Krieg nicht. Die Schwierigkeit für uns westliche Linke besteht wahrscheinlich darin, dass ein Volksaufstand mit einem Schulterschluss zwischen praktisch allen politischen Strömungen und Ethnien nicht in unsere seit dem 19. Jahrhundert verkrusteten Denkmuster passt. Kaum jemand kann sich vorstellen, gemeinsam mit weltanschaulich völlig anderen Menschen seine Nächte auf Barrikaden zu verbringen und notfalls auch sein Leben zu riskieren, um ein verbrecherisches Regime von der Macht zu verjagen.

Dabei habe ich Freunde im Westen, die weiterhin davon überzeugt sind, dass der ukrainische Nationalismus die Ursache für alle Probleme in unserem Teil der Welt ist. Die Tatsache, dass sowohl am Maidan als auch jetzt in den ukrainischen Schützengräben mindestens so viel Russisch wie Ukrainisch gesprochen wird, verdrängen sie lieber. Diejenigen unter uns (hier in der Ukraine), die die westlichen Medien verfolgen, hören natürlich die Stimmen, die zu Friedensverhandlungen aufrufen. Doch ohne die Befreiung der besetzten Gebiete ist so ein Vorschlag nicht einmal ein Achselzucken wert. Sollte die Unterstützung des Westens deutlich abnehmen (z.B. nach einer Wiederwahl von Donald Trump), wird dies wahrscheinlich zu einem faulen Waffenstillstand wie während der Besetzung des Donbas von 2016 bis 2022 führen, aber nicht zu einem Frieden. Dieser wird noch mehr Leid für die Zivilbevölkerung mit sich bringen; die besetzten Gebiete werden sich noch mehr in rechts- und gesetzlose Territorien verwandeln, die von Kriminellen beherrscht werden und wo die Bevölkerung der absurdesten Willkür ausgeliefert sein wird, so wie sie es jetzt schon ist.

Das Schwarze Meer

Ist Euch aufgefallen, dass kaum noch jemand über eine Hungersnot in Afrika spricht, die durch den Stopp der Getreideexporte aus der Ukraine verursacht werden könnte, und dass auch das Getreideabkommen mit Russland kein Thema mehr ist? Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Hauptgrund ist, dass die ukrainische Armee der russischen Marine in den letzten Monaten so grosse Verluste zugefügt hat, dass diese das Schwarze Meer nicht mehr kontrolliert, zumindest nicht die Gebiete in der Nähe der rumänischen und bulgarischen Küste. Dies ist für unsere südlichen Regionen (Odessa, Mykolajiw) und die gesamte Ukraine sehr wichtig, da die russische Marine nicht mehr in der Lage ist, Raketen aus dem Schwarzen Meer abzufeuern. Und für den Getreideexport ist das sehr wichtig, da nun ein Schifffahrtskorridor nahe der rumänischen und bulgarischen Küste gesichert wurde und Schiffe wieder ukrainischen Weizen und Mais zum Bosporus und weiter transportieren können. Dennoch soll demnächst auch in Transkarpatien, wo ich lebe, ein Getreideterminal gebaut werden, um den Landtransport effizienter zu gestalten. Ende November fuhr ein Getreidefrachter im Schwarzen Meer auf eine Mine, was die Versicherungsprämien sprunghaft ansteigen liess, und das hat logischerweise Auswirkungen auf die Getreidepreise. Gleichzeitig sieht man an der Grenze zu Rumänien lange Schlangen von Lastwagen, die mit Agrarprodukten beladen sind.

Ein langer Krieg

Natürlich wollte anfangs niemand an einen langen Krieg denken. Nach der Ausrüstung und den Vorräten zu urteilen, welche die russischen Elitetruppen beim Vormarsch auf Kyiw mit sich führten, dachten Putin und seine Handlanger, dass sie unsere Regierung nach wenigen Tagen durch eine Marionettenregierung ersetzen würden. Umgekehrt würde ich das, was zu diesem Zeitpunkt in unseren Köpfen vorging, nicht als «Denken» bezeichnen. Die Männer und Frauen, die sich Ende Februar 2022 freiwillig zur Armee meldeten, dachten auf keinen Fall daran, auch fast zwei Jahre später noch an der Front zu stehen. Viele von ihnen starben oder wurden verstümmelt, andere wurden von den Russen inhaftiert. Wir machen uns grosse Sorgen um unseren Freund Maksym Butkevych, einen Menschenrechtsverteidiger, der seit 18 Monaten in Kriegsgefangenschaft ist. Nachdem er im August vor dem Berufungsgericht gestanden war, verschwand er während drei Monaten. Vor ein paar Tagen hat ihn sein Moskauer Anwalt zum Glück wieder in einem Gefängnis in der besetzten Oblast Luhansk ausfindig machen können. Schätzungen berichten von derzeit etwa 7000 ukrainischen Kriegsgefangenen. Seit Beginn des Krieges wurden 2000 von ihnen ausgetauscht, aber seit dem letzten Sommer gab es keinen Austausch mehr. Diejenigen, die freigelassen wurden, berichten von Misshandlungen, Folter und dem Mangel an allem. Der ukrainische Ombudsmann zählt ausserdem 28.000 von Russland verschleppte Zivilisten, darunter viele Kinder.[2]

Andere Realitäten

Es gibt auch die anderen, diejenigen, die sich nicht vorstellen konnten, ein Gesellschaftsmodell, die Freiheit oder ganz einfach den Ort, an dem ihre Familien leben und Vorfahren lebten, zu verteidigen. Die Dörfer in Transkarpatien[3] sind von ihrer männlichen Bevölkerung entleert. In dieser Region mit ihrer langen Tradition der saisonalen Migration hatten viele «Lunte gerochen» und waren vor dem Krieg in eines der Nachbarländer ausgereist, wo es chronisch an Arbeitskräften mangelt. Im Laufe der Monate liessen viele von ihnen ihre Familien nachkommen und machten von der Möglichkeit Gebrauch, dass das Aufenthaltsrecht für Ukrainer·innen während des Krieges vereinfacht wurde. Viele Menschen können sich aber nicht vorstellen, in einem fremden Land zu leben, und machen daher nach dem traditionellen Muster weiter: Die Männer arbeiten im Ausland, die Frauen besuchen sie ab und zu und bringen etwas Geld nach Hause. Aber auch sie haben nicht damit gerechnet, dass der Krieg jahrelang dauern würde. Die Männer wollen/können nicht zurückkehren, da sie in die Armee eingezogen werden, sobald sie an der Grenze auftauchen. Der soziale Preis dieser erzwungenen Emigration und der Trennungen ist zwangsläufig sehr hoch. Auch im zweiten Jahr des Krieges haben sich viele Männer mit allen möglichen Tricks aus dem Staub gemacht. Meinem subjektiven Eindruck nach ist es eher die Sache von Männern aus anderen Regionen, Tausende von Euro an Schlepper oder korrupte Grenzbeamte zu zahlen, während die Männer hier fast immer einen Weg mit geringerem Risiko finden. Es ist schwer, sich vorzustellen, welche Folgen das alles für unsere Region hat. Werden die Flüchtlinge aus dem Osten hierbleiben, und vor allem welche von ihnen? Als ich kürzlich durch Uzhhorod, die Hauptstadt Transkarpatiens, fuhr, war ich ziemlich schockiert über all die Teslas und die neuen Luxusboutiquen. Die Mieten haben sich verdoppelt. Soziologische Studien belegen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich seit Beginn des Krieges in der gesamten Ukraine stark zugenommen hat.

Eine andere Seite der Migration: Unsere direkten Nachbarn sind in die Slowakei gezogen; der Ehemann vor dem Krieg zum Arbeiten, seine Frau und ihr 13-jähriger Sohn seit einem Jahr. Sie leiden unter dem anti-ukrainischen Rassismus der Slowaken und wollen so schnell wie möglich zurückkehren. Der Junge, der sehr nett und gesellig ist, hat in einem Jahr keine Freunde unter seinen Klassenkameraden gefunden und leidet stattdessen unter Mobbing aufgrund seiner Herkunft.

Zurück zum Winter

Die russische Armee bombardiert die ukrainischen Städte jeden Tag und vor allem jede Nacht. Die Alarmsirenen heulen jeden Tag, auch in unserer Region. Der Unterschied besteht darin, dass in Städten wie Cherson, Zaporijjia und vielen anderen die Einschläge, Zerstörungen, Toten und Verletzten ebenfalls täglich sind, während wir verschont bleiben. In einem Dorf im Nordosten wurden im Oktober über 50 Zivilist·innen während einer Beerdigung getötet. Seit einigen Monaten benutzen die Russen vor allem iranische Drohnen für ihre Angriffe. Die viel teureren Raketen setzen sie sparsam ein; deren Anzahl und die Produktionskapazitäten sind begrenzt. Es gibt eine durchaus plausible Befürchtung, dass dies eine strategische Entscheidung ist (Schätzungen zufolge besitzt Russland derzeit fast 900 ballistische Raketen aller Art), um massive Angriffe auf die Energieinfrastruktur zu starten, sobald die Kälte kommt. Dieses Mal wird es für niemanden eine Überraschung sein. Bei uns in Transkarpatien wurden die Schulen angewiesen, die Warnungen bloss nicht zu ignorieren, denn Geheimdienstberichten zufolge soll unsere Region dieses Mal nicht verschont bleiben.

Was mir sonst so aufgefallen ist

Hier, völlig chaotisch, noch verschiedene Fakten und subjektive Eindrücke: Die Familienmitglieder einiger Soldaten protestieren öffentlich und fordern ihre Demobilisierung nach bald zwei Jahren an der Front. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie zur Kapitulation aufrufen. (…) Der Staatshaushalt für 2024 wurde von der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, verabschiedet. Fast 50 Prozent der Mittel werden für die Kosten des Krieges, der Armee und der Rüstung aufgewendet. Es ist kein Strassenbau mehr vorgesehen, was vor dem Krieg Zelenskys Lieblingsprojekt war. Es stimmt, dass es dadurch schwierig wird, bestimmte Strecken als «Strasse» zu bezeichnen, da man für eine Fahrt von einem Dorf ins andere oft die dreifache Zeit benötigt.

Der Kampf gegen Korruption geht auch während des Krieges weiter, und ich würde sagen, dass er allmählich an Schwung gewinnt. Anfang Dezember wurde der Leiter eines staatlichen Komitees für die Digitalisierung der Armee verhaftet. Zusammen mit einer zweiten Person soll er fast 1,5 Millionen Euro gestohlen und gleichzeitig die Digitalisierung stark gebremst haben. Wie viele Tote diese Beiden auf dem Gewissen haben, bleibt unberechenbar. Es ist auch festzustellen, dass wieder einmal Personen, die dem innersten Machtzirkel in Kyiv sehr nahestehen, inhaftiert wurden, und ja, das ist ein gutes Zeichen.

Jürgen Kräftner*, Anfang Dezember 2023

*Unser Korrespondent ist Landwirt und Musiker. Seit über 20 Jahren lebt er im Dorf Nischnje Selischtsche in Transkarpatien.

  1. Hier das Interview mit Saluschny (auf Englisch): https://www.economist.com/europe/2023/11/01/ukraines-commander-in-chief-on-the-breakthrough-he-needs-to-beat-russia

  2. Eine im Februar 2023 veröffentlichte Studie einer Gruppe von Wissenschaftler·innen der Yale-Universität in den USA berichtet über ein Netzwerk von mindestens 40 russischen Lagern, die der «patriotischen Umerziehung» gewidmet sind und in denen jungen Menschen aus der Ukraine die Liebe zu Russland und die Abneigung gegen die westliche Welt eingetrichtert werden. Die Studie ergab, dass mindestens 6000 ukrainische Minderjährige wochen- oder monatelang in diesen Lagern leben müssen, weit weg von ihren Eltern.

  3. Region im westlichsten Teil der Ukraine mit Grenzen zu Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Polen.