UKRAINE / KRIEGSFOLGEN: Notwendige psychologische Hilfe

von Paul Braun, EBF, 13.06.2023, Veröffentlicht in Archipel 326

Wie schon länger geplant, organisierte das EBF Anfang Mai in Zusammenarbeit mit dem «Komitee für medizinische Hilfe in Transkarpatien» (CAMZ) einen ersten Workshop zum Thema psychische Gesundheit und posttraumatische Belastungsstörungen in der Ukraine.

Zusätzlich zu der Nothilfe und der Bereitstellung von Unterkünften für Vertriebene erscheint es uns auch sehr wichtig, die Probleme anzugehen, die mit den traumatischen Erfahrungen im Krieg verbunden sind. Millionen von Menschen – von einem Tag auf den anderen auf die Strasse geworfen – mussten alles zurücklassen. Viele haben Angehörige verloren, ganze Dörfer und Städte wurden völlig zerstört und die ständigen Bombardierungen ukrainischer Städte und ziviler Wohngebiete durch die russische Armee sorgen unter der Bevölkerung für ein Gefühl grosser Ungewissheit.

In den letzten zwei Wochen hat die russische Armee ihre Bombenangriffe auf ukrainische Städte stark intensiviert. Höchstwahrscheinlich will die russische Armee die Organisation des für dieses Frühjahr angekündigten ukrainischen Gegenangriffs stören. Während unseres Aufenthalts ertönten Luftschutzsirenen, und jede·r verfolgte die Warnungen in Echtzeit auf einer Regierungs-App.

Angesichts der durch den Krieg hervorgerufenen anderen Dringlichkeiten wird die Problematik von psychischen Störungen und Traumata oft in den Hintergrund gedrängt, obwohl es wichtig ist, sich gerade jetzt damit zu befassen. Unsere ukrainischen Freundinnen und Freunde hatten uns darüber ins Bild gesetzt, dass das ukrainische psychiatrische System immer noch weitgehend defizitär ist und von einem autoritären und zwangsorientierten Ansatz dominiert wird, wie es zu Sowjetzeiten der Fall war.

Wir luden daher zwei Expertinnen für ein Seminar ein: eine Schweizer Psychologin und eine französische Psychiaterin, mit der wir befreundet sind. Beide verfügen über eine langjährige Berufserfahrung mit entwurzelten Menschen in Europa, aber auch direkt in Kriegsgebieten, wie z.B. in Tschetschenien. Die beiden Referentinnen ergänzten sich sehr gut und konnten viele konkrete Beispiele aus ihrer Arbeitsweise mit Menschen in schweren Notsituationen berichten.

Hilfestellungen

Der dreitägige Workshop fand in Transkarpatien im Westen der Ukraine im Dorf Nischnije Selischtsche statt, wo sich die Kooperative von Longo maï befindet, die im vergangenen Herbst die Renovierung eines alten Rathausgebäudes organisiert hatte, um dort eine Notunterkunft für 35 Menschen einzurichten, die aus den Kriegsgebieten im Osten der Ukraine geflohen waren. Das Seminar richtete sich daher zum einen an lokale Freiwillige und Sozialarbeiter·innen, die diese Vertriebenen täglich begleiten, aber keine beruflichen Erfahrungen mit psychischen Störungen haben. Die zweite Gruppe von Teilnehmer·inne·n waren Psycholog·inn·en, die an verschiedenen Orten in Transkarpatien arbeiteten, und schliesslich gab es auch eine Gruppe von Psycholog·inn·en aus Zaporijia, einer Stadt in der Zentralukraine, die dreissig Kilometer von der Front entfernt liegt. Zaporijia wird regelmässig von der russischen Armee bombardiert, die Schulen hier sind seit fünfzehn Monaten nicht mehr geöffnet. Für die Teilnehmer·innen, die von dort gekommen sind, war es ein erster «Ausflug» in einen sichereren und ruhigeren Ort. Es war wichtig, ihnen Raum und Zeit zu bieten, in der sie sich entspannen und gegenseitig Gedanken austauschen konnten. Transkarpatien wurde seit Beginn des Krieges nicht bombardiert und eignet sich daher gut für die Umsetzung von Projekten.

Bei dem Treffen wurde auch das Thema Burnout angesprochen, in das Pflege- und Betreuungspersonen fallen können. Es gibt Methoden und Praktiken, die uns helfen, Abstand zu halten, auch wenn wir jeden Tag mit schrecklichen Geschichten konfrontiert werden. Man muss lernen, sich zurückzuziehen, sich auszuruhen, Zeit für Familie sowie Freundinnen und Freunde zu haben und auch körperliche Aktivitäten, wenn möglich im Freien, auszuüben. Supervision als Beratungs- und Hilfspraxis durch externe Therapeut·inn·en kann ebenfalls sehr hilfreich sein. Eine Sozialarbeiterin, die in einer Notunterkunft in Uschhorod arbeitet, berichtete beispielsweise von einer Mutter, die es nicht ertragen konnte, dass ihre Kinder mit anderen Kindern spielten, soziale Kontakte knüpften und sich amüsierten. Angesichts ihres eigenen Traumas konnte sie nicht mit ansehen, wie ihre Kinder ein «normales» Kinderleben führten, so dass sie die Kinder in ihrem Zimmer einsperrte, wenn sie einkaufen ging. Im Austausch mit den anderen Teilnehmer·inne·n des Seminars wurden Möglichkeiten für ein feinfühliges Eingreifen erörtert und gleichzeitig betont, dass man Kinder auf keinen Fall in einer solchen Situation belassen darf. Eine der Seminarleiterinnen erzählte, wie sie es damals in einem tschetschenischen Flüchtlingslager gemacht haben: Sie stellten ein spezielles Zelt auf, in dem die Kinder spielen, malen, singen und sich amüsieren konnten. So konnten sich die Kinder für einige Zeit dem Stress der Umgebung entziehen und, sobald die Mütter Vertrauen gefasst hatten, konnten auch diese sich ausruhen oder ein wenig Kraft tanken.

Wissensvermittlung

Das Seminar beinhaltete einige theoretische Momente, z.B. über die medizinische Definition von Trauma und posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) und wie man sie von Stressreaktionen und Hilflosigkeit unterscheidet, die in einer ausserordentlichen Situation wie in einer Kriegszeit normal sind. Unsere Freundin, die Psychiaterin aus Frankreich, gab auch Erklärungen ab, wie man Nichtfachleuten beibringen kann, den Grad einer Depression zu erkennen, um zu wissen, ob sie eine·n Arzt/Ärztin oder Psychiater·in aufsuchen sollten. Ein anderer Teil des Workshops war darauf ausgerichtet, Personen, die an der Basis und im täglichen Kontakt mit Geflüchteten arbeiten, «Werkzeuge» in die Hand zu geben, um schwereren Störungen vorzubeugen: Gesprächsgruppen, Zeichenworkshops mit Kindern, Selbsthilfegruppen, soziale Aktivitäten wie Singen, Kochen, Gartenarbeit … Es geht auch darum, den Begleitpersonen mehr Autonomie zu geben.

Es wurden auch andere Ideen diskutiert, z. B. der Plan, Allgemeinmediziner·inne·n in der Region speziellere Schulungen für psychiatrische Notfallhilfe anzubieten, da es einerseits einen Mangel an Psychiater·inne·n gibt, andererseits aber auch eine gewisse Angst oder Befürchtung, solche aufzusuchen. Die erste Kontaktperson ist oft der Hausarzt/ die Hausärztin. Das EBF und CAMZ haben vor einigen Monaten den Beginn einer Feldstudie in verschiedenen Orten Transkarpatiens bei Ärzt·inn·en, Apotheker·inne·n, Lehrer·inne·n und freiwilligen Betreuer·inne·n organisiert, um den Bedarf an psychologischer und psychiatrischer Hilfe genauer zu bestimmen.

Ein weiteres grosses Problem, das langfristig nicht allein mit einheimischen Freiwilligen gelöst werden kann, sondern eine umfassendere Politik erfordert, sind ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten. Die meisten Zufluchtsstätten für Binnenvertriebene waren auf vorübergehender Basis geplant; im Osten der Ukraine, näher an der Front, war die Aufnahme oft nur für einige Tage vorgesehen. In Nischnije Selischtsche war die Aufnahme in der Notunterkunft auf maximal sechs Monate ausgelegt. Dank der Begleitung durch einheimische Freiwillige gelang es mehreren ihrer Bewohner·inne·n, eine Anstellung in der näheren Umgebung und später auch eine eigenständige Unterkunft zu finden. Dies ermöglicht es solchen Familien, sich selbst zu versorgen und am lokalen Leben teilzunehmen, aber auch Plätze in der Notunterkunft für Schutzsuchende freizumachen, die auf der Warteliste stehen. Anders verhält es sich jedoch mit älteren, und alten Personen, die oftmals ihr gesamtes Hab und Gut und auch Angehörige verloren haben. Diesen Menschen wurde es natürlich ermöglicht, in der Notunterkunft zu bleiben, aber das wirft Fragen über die notwendige längerfristige Begleitung und Unterstützung auf. Jedenfalls waren alle Teilnehmer·innen mit diesen ersten Workshops sehr zufrieden und dankbar und wir planen, weitere Seminare zu organisieren.

Paul Braun, EBF