Wir veröffentlichen hier den 2. Teil des Interviews mit Vladislav Starodubtsev, einem Historiker, der sich auf Mittel- und Osteuropa spezialisiert hat und Aktivist von «Sotsialnyi Rukh» ist, der linken ukrainischen Organisation «Soziale Bewegung». Im Zentrum des Gesprächs steht die Frage der sozialen Folgen des Krieges für die Ukrainer·innen.*
A: Aber es gibt auch positive Aspekte. Soweit ich weiss, gibt es in der Ukraine Traditionen von erfolgreichen Arbeitskämpfen, vor allem in der Schwerindustrie und im Kohlebergbau. VS: Der letzte erfolgreiche Streik fand im September oder Oktober 2022 in Novovolynsk statt und wurde von den Kohlearbeitern gegen einen korrupten Boss geführt, der seit dem Krieg im Amt war. Der Streik war erfolgreich und der Leiter wurde entlassen. Das heisst, selbst während des Krieges kann man Streiks organisieren und gewinnen. Das Problem ist, dass die Branche im Niedergang begriffen ist und keine Zukunftsperspektive hat. Heute sind vom Kohlebergbau der späten UdSSR in der Ukraine wahrscheinlich nur noch etwa 10 Prozent übrig. Und die dazugehörige Industrie ist aus Umweltgründen dem Untergang geweiht, ohne dass es entsprechende Sozialpläne oder Sozialhilfe für die Arbeiter·innen gäbe.
A: Die Kohlebergwerke befinden sich doch hauptsächlich in den besetzten Gebieten? VS: Ja, aber in der Zentralukraine gibt es ein Beispiel für einen Streik in Kryvyi Rih. Die Bergarbeiter streikten für höhere Löhne und gegen Reformen im Bergbau. Mehrere Bergwerke schlossen sich diesem Kampf an, der mit Zugeständnissen des Managements und einer Lohnerhöhung von 20 Prozent endete. Das heisst, wenn sich die Arbeiterklasse organisiert, erreicht sie in der Regel Zugeständnisse. Das Problem ist, dass es an politischer Repräsentation mangelt, d. h. an der Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen. Die Menschen verstehen nicht, was sie tun können, sie kennen nicht einmal ihre Rechte. Sie verfügen nicht über eine Kultur des Protests und der Verteidigung ihrer Rechte. Wir brauchen politische Alphabetisierung und politische Repräsentation, politische Organisationen.
A: Es gibt hier Nuancen, die für unsere westlichen Leser·innen nicht leicht zu verstehen sind. Zelensky ist von Leuten umgeben, die in staatlichen Regelungen das Schreckgespenst der Sowjetunion sehen und daher völlig antisoziale Theorien vertreten. VS: Das ist richtig. Das politische Denken in der Ukraine hinkt dem Westen um 30 Jahre hinterher. Es werden immer noch Margaret Thatcher, Ronald Reagan und bestenfalls Tony Blair zitiert. Dementsprechend wäre es ausreichend, alle Regulierungen abzuschaffen und alles wird besser. Wenn wir alle produktiven Kräfte der Unternehmen von Regeln befreien, werden sie Alles schaffen – Investitionen und Arbeitsplätze.
A: Das ist Sozialdarwinismus. VS: Ja. Doch seit dem Krieg haben einige dieser Leute begonnen, ihre Meinung zu ändern, darunter auch Zelensky. Er hat kürzlich einige wichtige Unternehmen verstaatlicht. Und seine Partei spricht sich neuerdings für Steuererhöhungen aus. Ein weiteres Beispiel: In der Agrarpolitik ist es unmöglich, ohne Subventionen die Aussaat zu bestellen, da die Kosten für Saatgut stark angestiegen sind. Daher ist die Regierung gezwungen, den gesamten Sektor zu subventionieren, da er sonst völlig zusammenbricht. Das führt zu der Erkenntnis, dass der neoliberale Ansatz hier nicht funktioniert. Aber längst nicht alle wollen das einsehen.
A: Leider fliessen die Agrarsubventionen fast ausschliesslich in die Taschen der Agrarindustrie, während die kleinen und mittleren Betriebe sich selbst überlassen bleiben. VS: Das ist richtig, und das ist begleitet von dieser absurden postsowjetischen Logik, dass alles zusammenbrechen muss, dass wir ein besseres Investitionsklima schaffen werden und dass es daraufhin Arbeit geben wird und alle gut leben werden. Ich erinnere mich an ein Zitat, das mich als Osteuropahistoriker sehr beeindruckt hat: Nach der samtenen Revolution in der damaligen Tschechoslowakei erklärte ein Wirtschaftsminister in einem Interview, dass er, als er sagte, dass der Staat eine Industriepolitik betreiben sollte, als Kommunist beschimpft und vor die Tür gesetzt worden sei. Wir befinden uns in der gleichen Situation. Manchmal verstehen die Leute an der Macht, dass bestimmte Massnahmen ergriffen werden müssen, aber sie sind in einem Denkschema gefangen, aus dem sie nicht ausbrechen können. Das ist ein riesiges Problem. Unsere gesamte Wirtschaftspolitik basiert auf dem Ansatz, dass wir zuerst die Unternehmen unterstützen müssen, damit die Unternehmen alle unterstützen. Und im Idealfall sollte der Staat gar nicht existieren. Oder, im schlimmsten Fall, sollte der Staat nur die Unternehmen unterstützen. Denn wenn er die Unternehmen unterstützt, werden diese für das Wohlergehen ihrer Arbeitnehmer·innen sorgen. Das ist die Logik.
A: Du bist auch international vernetzt. Welchen Beitrag könnten ausländische Gewerkschafter·innen, Politiker·innen oder Fachleute in Sachen ukrainischer Sozialpolitik leisten? VS: Zunächst einmal können internationale Gewerkschaften Druck auf unsere Regierung ausüben, denn sie ist sehr abhängig von der Meinung im Westen und von den westlichen Partner·inne·n. Unsere Politiker·innen achten sehr genau auf alle Signale aus dem Westen. Wenn es im Westen heisst: «Was für eine schreckliche Sozialpolitik in der Ukraine», dann hat das hier Konsequenzen. Das heisst, es gibt eine enorme Möglichkeit der Einflussnahme, wenn Sie diese Themen ansprechen. Zum Beispiel kam ein Vertreter der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zu uns und sprach sich gegen diese neoliberalen Sozialreformen aus. Die grössten Gewerkschaften und wir haben uns ebenfalls gegen diese ausgesprochen, was den Prozess teilweise zum Stillstand gebracht hat. Der Sozialabbau wurde nicht völlig gestoppt, aber es kam zu einem zusätzlichen Druck auf die Regierung. Das Problem ist, dass es während des Krieges sehr schwierig ist, solche Fragen aufzuwerfen, ganz einfach aufgrund der Tatsache, dass viele Arbeitnehmer·innen mobilisiert sind und der Grossteil des Medienraums vom Krieg eingenommen wird. Aber wenn man es tut, funktioniert es. Und natürlich ist es jetzt notwendig, Kontakte zu ukrainischen Aktivistinnen und Aktivisten aufzubauen, um humanitäre Hilfe zu leisten; die linken Gruppierungen zu treffen, die sich an der Front engagieren und eine direkte Kommunikation an der Basis zwischen Gewerkschaften aus dem Ausland und der Ukraine herzustellen. Das ist sehr hilfreich.
Das Interview wurde von unserem Ukraine-Korrespondenten Jürgen Kräftner geführt.
*Den 1. Teil können Sie im letzten Archipel (Februar 2022/ Nr. 322) nachlesen.